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Jun 13 2015

Magdalena Hinrichsen – Erinnerungen (7)


Im ersten Weltkrieg

Christian und Georg wurden im ersten Weltkrieg als 17- und 18jährige eingezogen, Christian als Student im ersten Semester, Georg als Primaner. Sie sind damals nicht an der Front gewesen, sie durften heimkehren und das Studium oder Georg das Abitur machen.

Ein Soldatentod aus dem ersten Weltkrieg ist mir noch in Erinnerung. Unser geliebter Lehrer Burmester, den wir im ersten und zweiten Schuljahr hatten, wurde gleich zu Kriegsbeginn eingezogen und fiel schon im ersten Jahr. Diese Nachricht, die unser Vater allen Klassen mitteilte, hat wie ein Blitz eingeschlagen und besonders wir, seine Klasse, wurde aufs tiefste erschüttert. Ich entsinne mich, daß auf dem Schulhof auch bei den Jungs kein lautes Toben und Schreien war und daß wir Mädchen in den Pausen in Gruppen zu fünf oder sechs eingehakt über den Schulhof gingen, schweigend, einander tröstend und daß ich in dieses Schweigen hinein sagte: nie in meinem Leben werde ich wieder lachen! Wenn ich dies Versprechen auch nicht eingehalten habe, zeigt es doch, wie wir achtjährigen Schülerinnen um diesen geliebten Lehrer trauerten und wir die Bitterkeit des Krieges spürten.

Adolf war bei Kriegsende 17 Jahre alt und ist um den ersten Weltkrieg herumgekommen. Er hat aber besonders, wie auch Thies und Bernd die Bitterkeit der Nachkriegszeit spüren müssen. Die Drei waren Schüler in Flensburg und haben gehungert und zeitweise täglich die Fahrt von Flensburg nach Kappeln gemacht, um sich bei Mutter ein wenig satt zu essen.

An dieser knappen Zeit hat wohl am meisten Bernd gelitten. Er war klein und schmächtig und war noch der Kleinste in seiner Klasse, als er in Flensburg sein Abitur machte. Als er nach dem ersten Semester aus Tübingen zurückkam, war er so in die Länge geschossen, daß wir ihn kaum wiedererkannten. Dieses späte und schnelle Wachsen hielt noch an, ist ihm aber nicht zum Guten geraten und hat ihm viel Not bereitet. Er fiel ja später durch seine Länge auf wie früher als Schüler durch seine Kleinheit. Als er als fünftes Glied der Familie Thomsen aufs Gymnasium kam, wurde er vom Direktor als „Benjamin“ begrüßt. Früher soll dort aber auch das Wort gefallen sein: da sitzen die Thomsens zu schrecklichen Klumpen geballt!

Adolf war überall in der Schule und im Studium der Jüngste und war dann auch, als er fertig war, der jüngste Pastor in unserer Landeskirche. Er gehörte schon als Primaner zu einem Kreis christlicher Studenten, zumeist Theologen, die sich „Bruderbund“ nannten. Als ihm für eine Freizeit einmal eine Andacht aufgetragen wurde, erzählte er Homa davon, wahrscheinlich ein bißchen stolz, so daß es wie „Predigt“ klingen konnte. Jedenfalls erhielt er von Homa den Dämpfer: segg mal, wie old bist du egentlich? Wahrscheinlich war er 17! Adolf hatte immer ein recht selbstsicheres Auftreten, daher nannte Homa ihn gern den Junker.

Lene, Trudel und Berta

Wir Schwestern

Berta und ich konnten gut miteinander spielen, obgleich wir jeder unsre Freundinnen hatten, wir sind ja nur kaum zwei Jahre auseinander. Wir haben uns natürlich auch erzürnt, vor allem, weil ich so von Homa bevorzugt wurde, es ging unter uns Geschwistern nicht immer so sanft her, das zeigt der Ausspruch von Georg, als Berta ihn mal fragte: bin ich eigentlich hübsch, erhielt sie die Antwort und zugleich den Dämpfer für solche Eitelkeit: ja, Du bist hübsch, aber Du hast eine schwarze Seele!

Trudel, sieben Jahre jünger als ich, baute sich ihre eigene Welt auf, in die wir älteren Geschwister kaum hineinschauten. Ihre Freundin Hedi Zuschlag war täglicher Gast in unserem Hause, wir hörten sie an ihrem chronischen Husten die Treppe heraufkommen, irgendwo bei Trudel verschwinden, und die Zwei wurden nicht mehr gesehen. Was sie eigentlich trieben, blieb uns verborgen, sicher langweilten sie sich nicht. Sie brauchten keine Anregung von außen, keine Anleitung zum Spielen und waren auch niemandem im Wege. Oftmals gesellte sich als dritte Agnes Reichel dazu, die Tochter unseres Zeichenlehrers. Sie hatte die Gabe ihres Vaters geerbt, konnte zeichnen und Scherenschnitte machen, und wenn man unversehens in das Reich dieser drei einbrach, lag der Tisch voller Papierschnitzel und Zeichenversuche. Agnes Reichel hat dieses gute Erbe ihres Vaters gepflegt, hat später mit Zeichnen und Töpfern eine Werkstatt aufgebaut und sie mit ihrem Mann und jetzt auch ihrem Sohn in Mehlby bei Kappeln zu einer gutgehenden Keramikwerkstatt ausgebaut. Ich habe sie mehrfach aufgesucht, sie wartet brennend auf den Besuch ihrer Schulfreundin, Trudel, um ihr zu zeigen, was aus dem gemeinsamen Schnippeln in Kindertagen geworden ist.

Mit Hedi Zuschlag hat die Verbindung nie aufgehört. Seit den Kindertagen bis heute hin besteht die Freundschaft, im Schreiben, im Besuchen hüben und drüben und in mancherlei Freundlichkeiten.

Auf Trudels Bitte hin hat Hedi uns einige ihrer Erinnerungen aufgeschrieben. Wie sie das Schulhaus, unsre Familie und das Spielen mit Trudel erinnert, das soll uns ihr eigener Beitrag sagen. Ich laß ihn hier folgen:

„Das alte Schulhaus, alte hohe Bäume davor, riesige Mengen von Herbstlaub, in denen, zusammengefegt, wir uns Höhlen bauten.

Eine Treppe hinauf, und ich stand vor Eurer Korridortür. Wie oft mag ich daran geschellt haben! Aber nur ein einziges Mal sehe ich mich in Ungeduld davor stehen. Ich war bei Euch aufbewahrt worden während des Ereignisses, dann nach Hause gerufen, um die neugeborene Schwester zu besichtigen. Ein flüchtiger Blick und dann in Windeseile zu Euch zurück, um zu berichten. Wir waren völlig überrascht, wie Kinder es damals noch zu sein pflegten. Sonst waren wir, fürchte ich, herzlich wenig an ihr interessiert, weil wir nicht mit ihr spielen konnten.

Umgekehrt waren Deine Geschwister uns ferne Wesen. Sie rechneten zu den Erwachsenen. An Deine beiden Schwestern habe ich nur flüchtige Erinnerungen als an muntere, fröhliche Wesen mit vielen Lautenbändern. Man sammelte damals Lautenbänder, sie mußten eigenhändig bestickt sein, je mehr Freundinnen, desto mehr Lautenbänder. Ich hätte auch gern welche gesammelt, aber ich hatte ja keine Laute.

Dein Vater war der „Rektor Thomsen“, also Respektperson. Nur einmal nahm ich seine Hilfe gern an, als mich eine Biene gestochen hatte, ein nicht ganz geheures Erlebnis. Ich mied seitdem die Gartenecke mit dem Bienenhaus.

Deine Mutter war etwas Stilles, Lautloses, Freundliches. Immer zugegen und doch nicht dabei. Die Erwachsenen hatten wohl damals ein anderes Verhältnis zu Kindern. Sie gaben ihnen Schutz, Geborgenheit, Wärme, aber sie ließen ihnen ihren Freiraum, sie mischten sich nicht ein. So lernten wir, uns allein zu beschäftigen, zu spielen, Phantasie zu entwickeln.

Und wie haben wir gespielt! Allerdings waren wir wohl auch gutartige Kinder. Wir bestanden noch nicht auf unseren Rechten, wir gehorchten, da man nichts Unbilliges von uns forderte. Und wir wußten noch nicht, was Komplexe sind. Nur ein bißchen zu schüchtern waren wir wohl und deshalb am liebsten unter uns.

Wenn ich hineinkam in den Flur, die Erinnerung von Dämmerlicht und vielen Türen, einen langen Gang entlang. Bin ich je in einem dieser Zimmer gewesen? Ich kann nicht einmal erinnern, wo Du geschlafen hast. Aber rechts gegenüber der Korridortür das große Wohnzimmer mit Sofa, Tisch und vielen Stühlen in der Ecke rechts. Ein einziger Augenblick in diesem Zimmer ist lebendig in meinem Gedächtnis. Überraschend viele Menschen saßen um den Tisch. Deine Brüder, Bräute vielleicht, einschüchternde Wesen allesamt, die mich, die ich so schüchtern von Natur war, vollends verstummen ließen. Du kamst, mich zu erlösen. Wir verschwanden durch die Tür rechts in eine Abseite, von schallendem Gelächter begleitet. In der Abseite waren wir geborgen. Wir saßen niedrig. Ich las Dir vor, Du lasest von hinten mit. Und hast einmal gesagt, Du hättest schließlich die Buchstaben auf den Kopf gestellt, besser lesen können als die normal sichtbaren.

Ja, lesen konnte ich gut, niemand weiß, wie ich es lernte, denn ich ging im ersten Jahr kaum zur Schule wegen meines Leidens. Mit der Rechtschreibung freilich haperte es (bis heute!). So hat sich von den fernen Wesen, Deinen Brüdern, einer mir einmal zugewandt, um meinen Roman zu korrigieren, jedenfalls auf den ersten Seiten. Dann waren es ihm wohl zu viele Fehler. Wirklich erinnern kann ich nur Deinen Bruder Martin. Vielleicht imponierte mir das kranke Augenlid. Er war auch einmal bei uns im Haus, um sich von meinem Vater juristische Bücher auszuleihen. Er hat wohl zunächst in seinem Studienziel geschwankt.

Was den Roman betrifft (ich habe ihn noch!}, so hieß er „Des Doktors Kinder“. Ich glaube, Du schriebst über „Pastors Kinder“. Der Deine unterschied sich von meinem hauptsächlich dadurch, daß ausführlich die Mahlzeiten beschrieben waren. Soweit ich erinnern kann, kam die Idee zu dieser literarischen Tätigkeit von mir. Du saßest gerade auf dem Klo im Hof, und ich vermittelte sie Dir durch die nur angelehnte Tür. Wir sind dann auch sofort ans Werk gegangen. Aber es blieb bei dem Erstling. In dem kleinen Gebäude mit dem Klo war auch ein Hühnerstall. Manchmal mußten wir Regenwürmer sammeln für die Hühner. Wahrscheinlich rührt daher meine Abneigung gegen alles Wurm- und Schlangenähnliche. Nicht weniger ungern begleitete ich Dich zu den Ziegen. Es müssen stets heiße Tage gewesen sein, und der Weg war weit!

Die Küche übrigens war nur ein Ort, in dem Deine Mutter den Mehlkleister für unsere Klebereien kochte.

Das Paradies aber war der Boden. Davon brauche ich wohl nichts zu erzählen, Du wirst nichts vergessen haben. Die Hinterlassenschaft Deiner Schwestern. Die Puppenstuben, die Puppen. Die aufregenden Ereignisse, die wir sie erleben ließen. Erinnerst Du noch den Hochzeitszug? Wir stellten alle Gäste einfach auf den Schleier der Braut und beförderten sie so zur Kirche. Wo ist Kindern von heute soviel geschützter Raum gegönnt! Soviel Ungestörtheit. Wir müssen doch auch im Winter dort gespielt haben. Ich kann nicht erinnern, daß wir je gefroren hätten.

Im Sommer war ja der Schulhof unser Spielplatz, der ganze große Hof nur für uns allein. Wir spielten „Messerstich“, führten die Geschichte von „Sigismund Rüstig“ auf mit Kieselsteinen und Holzstäbchen, tobten uns bei dem wahnsinnig aufregenden Spiel „Rübezahl kommt“ aus. Und dann der Garten, der große Garten! Wir haben ja in Kappeln nie einen gehabt. So genoß ich ihn umso mehr. Der lange Mittelweg führte auf eine hübsche grüne Laube. Rechts und links vom Eingang hatten wir uns ein privates Gärtchen angelegt mit blühenden Unkräutern. Niemand hat uns gehindert. Um allerlei runde Beete in dichten Rosetten der Steinbrecht, den ich, als ich meinen eigenen Garten erwarb, als erstes pflanzte in Erinnerung an die Kindheit. Mit der Wolfsmilch bekämpftest Du Deine Warze an der Hand. Ich weiß nicht, ob es half. Ich betrachtete es als Zauberei. Im Herbst große Waschkörbe voll Obst, das verkauft wurde. Wie müßt Ihr gespart haben! Aber wir merkten nichts davon. Wir hatten zu essen, hielten bei Durst den Mund unter den Wasserhahn, Süßigkeiten gab es nur zu Weihnachten und am Geburtstag, Kleidung war unwichtig und von unsern Müttern genäht. Und hatten wir nicht die ganze Welt zum Spielen!

Ist es ein Wunder, daß unsere Kinderfreundschaft, einst auf soviel Verläßlichkeit (wieviel Versöhnungen nach wieviel Streit!), soviel Weite, soviel Wärme gegründet, gehalten hat bis heute?“


Magdalena Hinrichsen – Erinnerungen (8)
Magdalena Hinrichsen – Erinnerungen (6)


Ergänzung von admin:

Da ich weiß, dass Hedi (Hedwig) Zuschlag Studienrätin in Homberg bei Kassel war, wo sie auch ihren Ruhestand verbracht hat, habe ich im Internet noch etwas Interessantes über sie gefunden:

Schulprojekt zum Attentat auf Hitler: Von Helden und Tätern

Über Trudels andere Freundin, Agnes Reichel, ist auf der Homepage der Töpferei Stock folgendes zu lesen:

Geschichte

5 Kommentare

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  1. Regina Blätz

    Danke, Achim, für die weitere Recherche.
    Es ist interessant zu lesen, dass aus der früher wohl etwas kränklichen Hedi eine so mutige Frau geworden ist.

  2. Regina Blätz

    Ich finde Hedi’s Ausführungen sehr gut gelungen
    Sie hat einen angenehmen Schreibstil, schade das ihr „Roman“ nicht veröffentlicht wurde.
    ;)

    1. Wolfgang Jensen

      Das kleine Büchlein wurde mal bei ebay angeboten. Die Auktion ist aber längst beendet. Ich könnte mir vorstellen, dass Achim dort fündig geworden ist.

      1. Regina Blätz

        :) Nein, ich meinte ihren Kinderroman „Des Doktors Kinder“

        1. Wolfgang Jensen

          Alles klar, Regina. Hab‘ nicht genau gelesen. :oops:

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