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Jun 17 2015

Magdalena Hinrichsen – Erinnerungen (10)


Der Abschied von Kappeln

Wir haben achtzehn Jahre in Kappeln gelebt. Als dann eines Tages Vater uns offenbarte: wir werden aus Kappeln fortziehen – da schlugs wie eine Bombe ein! Unmöglich! Kappeln verlassen, niemals! Diese Ansicht hat viele Tränen gekostet. Aber es wurde möglich und wurde nötig, denn unser Vater war nach Kiel versetzt worden.

Es kam der letzte Sommer und es kam der 1. Oktober, der Termin des Umzugs. Die meisten Geschwister waren irgendwie verstreut, die Brüder auf der Universität, Berta in der Schweiz, wo sie im Pfarrhaus Dürrenmatt das „Fritzli“ erzogen hat.

Nur Georg, Trudel und ich hatten das Vorrecht, diesen schwierigen Umzug aus dem so weitverzweigten Schulhaus in eine Etagenwohnung mitzuerleben. Wochenlang wurde geräumt, ausgesondert, verbrannt, zerschlagen, verschenkt, bis der Haushalt so zusammengeschrumpft war, daß er wohl in zwei Möbelwagen und dann in der Kieler Wohnung, Feldstraße 65, II. Etage, unterkommen würde, wie wir meinten.

Am 30. September abends standen zwei große Möbelwagen vor der Tür, vielmehr auf dem Schulhof, damit am nächsten Morgen gleich das Packen losgehen konnte. Wir Familie waren für den letzten Tag und die letzte Nacht bei Freunden und Nachbarn eingeladen. Am nächsten Morgen waren wir alle pünktlich zur Stelle, die Packer gingen ans Werk und innerhalb kurzer Zeit war die Wohnung leer und alle Möbel verstaut, und wir standen betrübt und traurig auf dem Hof und nahmen nochmal Abschied von Haus und Schule und Garten. Als nach dem Mittagessen die Fahrt losgehen sollte, kam nur ein Packer, und zwar mit dem Bescheid: ab heute ist Transportarbeiterstreik. Was nun tun?

Da standen die gepackten Möbelwagen auf dem Hof, ebenso verlassen wie wir, auspacken ging doch nicht!

Möbelwagen von Isaack

Das Gerücht verbreitete sich schnell, und wir wurden – nachdem wir uns doch überall verabschiedet hatten, erneut von unseren freundlichen Gastgebern eingeladen, zu Mittag, zur Nacht, für den nächsten Tag und die Nacht und nochmal für einen dritten Tag.

So verbrachten wir ungewollt und mit etwas seltsamen Gefühlen die drei Tage, ließen uns einladen und verwöhnen und genossen unsre Heimatstadt und nahmen Abschied von allen lieben Stätten und Menschen. So faule Tage haben wir lange nicht gehabt, weder vor noch nach dem Umzug.

Einzug in Kiel

Schließlich am 4. Oktober ging das Leben weiter. Die Packer erschienen morgens und zogen mit den Wagen ab, ich meine, Georg mit im Möbelwagen. Trudel und ich mit den Eltern mit dem nächsten Zug, aber als wir ankamen, waren die Packer bereits da. Sie hatten sichs unten im Haus im „Deutschen Eck“ gütlich getan.

Georg hatte sein Fahrrad aus dem Möbelwagen geholt und erkundete die Umgebung unsrer neuen Wohnung. Als wir dann kamen, gings ans Auspacken, es wurde darüber dämmerig, wir fanden ein paar Birnen, die wir hier und da einschraubten und ratlos suchten wir im Halbdunkel Platz für die Möbel. Die großen Möbelstücke fanden ihren Platz, die Betten wurden aufgestellt – Georg krachte nachts mit dem seinen durch – schließlich verließen uns die Packer, wollten noch vor Schlafenszeit wieder in Kappeln sein, und wir schoben noch einige Sachen hin und her, suchten uns durch das Tohuwabohu hindurchzufinden und suchten bald, jeder irgendwo, sein Bett auf. Wir sanken todmüde in die Betten – und am nächsten Tag war mein Geburtstag.

Auf dem Flur wurden ein Tisch und fünf Stühle aufgestellt, Mutter hatte Geschirr und Lebensmittel ausgepackt, Trudel besorgte Brötchen beim so nahen Bäcker Ingversen, den Georg am Tag vorher bei seinen Erkundungsfahrten entdeckt hatte. So haben wir in all dem Durcheinander aber am schön gedeckten Tisch auf dem Flur den Geburtstagsmorgen gefeiert. Wir haben gesungen und Vater hielt die Morgenandacht, wir waren fröhlich beieinander. Als mich trotzdem etwas Trübsinn ankommen wollte, sagte Vater: mein liebes Kind, dies ist nun heute ein ganz besonderer Tag für dich. Du wirst viele Geburtstage in deinem späteren Leben vergessen, aber diesen, deinen 18., bestimmt nicht. Und so ists gekommen; dieser erste Morgen in Kiel, mein 18. Geburtstag, steht mir lebendig vor Augen.

Hinter uns lag der abenteuerliche Umzug, der Abschied aus Kappeln, das viele, viele Abschiednehmen von lieben Menschen und Freunden, von der Schlei, von dem Schulhaus, von unsrer Heimat und damit von unserer Kinderzeit.

Dies Erleben hinter uns und die neue fremde Welt in Kiel vor uns – die Erinnerung daran wird mir unvergessen bleiben.

~ Ende ~


Magdalena Hinrichsen – Erinnerungen (9)

4 Kommentare

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  1. Heino Küster

    Ganz tolle Geschichten :!: Schön, dass sie jetzt alle hier – für jeden zugänglich – verwahrt sind.

  2. Wolfgang Jensen

    Das ist ja ein irres Ding!!! In der im Text erwähnten Feldstraße 65/II. Stock hatte ich im Jahr 1970/71 meine erste Studentenbude (1 großes Zimmer – Bad-und Küchenmitbenutzung – Besuch max. bis 22.00 Uhr) und die Gaststätte hieß damals immer noch „Zum Deutschen Eck“. Heute ist da das „Gilgal’s Soul Kitchen“ beheimatet.

  3. admin

    Neben vielen interessanten biografischen Details der einzelnen Familienmitglieder finde ich Bertas Stellung als Erzieherin von Friedrich Dürrenmatt in Emmental in der Schweiz besonders bemerkenswert.

  4. Michaela Bielke

    Schön, dass Magdalena alles aufgeschrieben hat, und noch schöner, dass du das Heft hast. :)

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