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Feb 06 2019

Eckehard Tebbe: „Top 20“

Zur Einstimmung auf unser kleines Hitparaden-Projekt
wieder einmal ein paar „Soundtrack of my life“ -Erinnerungen von

Eckehard Tebbe (2012)

1966-1971 – Top 20

Jede Radiostation hat damals ihre eigene Hitparade. Die meisten bringen es nur auf die Top 10, da die Sendezeit begrenzt ist, aber die reinen Musiksender, die sich gerade mal am Rande um das übrige Geschehen in der Welt kümmern, ‚banale’ Nachrichten schon gar nicht auf dem Plan haben, reizen ihre Möglichkeiten ganz anders aus. Sie haben mindestens Top 20, oft aber auch Top 40. Bei Radio London – ‚Big L’ – heißen die Charts ‚Fab 40’, und es sind neben Manfreds von der Europawelle Saar und dem 50-Countdown von Radio Caroline die besten, die ich je kennenlerne. Warum? Weil auch hier nie die nationale Hitparade abgebildet wird, die sich allein nach den Verkaufszahlen richtet. Du kannst dir hier Platten gönnen, die du woanders eben nicht hörst, deshalb hänge ich Tag für Tag an dem Sender, zur ‚Fab 40’-Zeit (sonntags 12-15 Uhr) sowieso.

Aber die Zeit ist natürlich ungünstig: Tebbes sind beim Essen. Vater und Mutter gehen auch nicht unbedingt als Fans der Who, Small Faces, Pretty Things oder von Pinkerton’s Assorted Colours durch. Man bevorzugt Ronny, Freddy, Siw Malmquist, Gitte oder Heidi Brühl. Also besuche ich erst nach der Mahlzeit Kenny Everett, Ed Stewart, Tony Blackburn oder John Peel und all die anderen, die abwechselnd mit dem Rest der Radio-London-Crew moderieren. In den Jahren fehlt mir die rechte Ruhe beim Essen. Es gibt eben Nahrung, die wichtiger ist als Rotkohl und Entenbrust.

Der Suche nach der ultimativen Hitparade kommen Kalli, Jürgen, Wolfgang, Uwe, Achim, Erich, wechselnde andere und ich einen gewaltigen Schritt näher, als wir unsere eigene aus dem Hut zaubern. Einfache Sache. Jeder schreibt seine 10 Lieblingssongs auf, und daraus ergeben sich die Top 10 des ‚Clubs’. Ist hochinteressant, oder? Jeder hat seine Schwerpunkte, und da kann es vorkommen, dass sich völlig obskure Lieder zwischen den damaligen Mainstream-Songs breit machen. Kalli hat z.B. ein Faible für französische Chansons. Da taucht dann plötzlich ‚Le téléphone’ von Nino Ferrer in den Top 10 auf, nur weil er allein es extrem hoch eingestuft hat. Und er hat das Kreuz, den Coup mit ‚Agata’ zu wiederholen. Selbst bei mehrmaliger Nachfrage besteht er auf seiner ausgefallenen Wahl. Wegen der damaligen Hitparaden-Macke wird er übrigens von seinem älteren Bruder Klaus wieder und wieder auf Familientreffen ‚mit leicht süffisantem Unterton’ (Kalli) angemacht. Also noch heute, und Kalli ist die Sache geringfügig peinlich. Naja, mir nicht, aber dafür notiere ich in meinen Top 10 auch nicht Long John Baldry mit der Edelschnulze ‚Let the heartaches begin’. Er hat sie drin, und dessen schämt er sich rückblickend mehr als mit der Wahl von Nino Ferrer. Wobei er – äußerst süffisant – feststellt, dass er ja wenigstens nicht Engelbert Humperdinck berücksichtigt. Verdammt, er kann sich doch nicht allen Ernstes daran erinnern, dass ‚Les bicyclettes de Belsize’ am 20.10.1968 für eine Woche bei mir auf Platz 19 ruht. Wenn das nicht extrem peinlich ist …

Es ist jammerschade, dass offenbar niemand diese Charts aufhebt. Vor ein paar Jahren fragt mich Achim danach, ob sie nicht noch bei mir rumliegen. Nein, Achim, leider nicht, aber meine eigenen Listen habe ich noch und bin stolz darauf. Freaks werfen sowas nicht weg. Das sind Schätze aus der Vergangenheit, die belegen, dass man schon immer etwas anders war, tief im Schützengraben der Einzelkämpfer. Aber >>>>>>>

Don’t be
afraid of being
different,
be afraid of
being the same
as everyone
else.

Ich beginne 1966 gleich mit den eigenen Top 20. Mit lächerlichen zehn Lieblingssongs gebe ich mich gar nicht erst ab. An sich könnte ich ja auch die Hot 100 auflisten wie irgendein Sender damals, der den wöchentlichen Billboard-Charts-Countdown sendet. Favoriten habe ich schließlich Tausende. Massen an neuen kommen wöchentlich dazu.

Aber da ist die leidige Zeitfrage. Du brauchst Stunden, um sowas einigermaßen gerecht zu konzipieren. Es ist nämlich eine Gewissensfrage, ob du z.B. am 4. Juni 1967 gleich fünf Titel von ‚Sergeant Pepper’ einsteigen lässt. So einmalig das Album auch ist, aber ‚Waterloo sunset’ von den Kinks müsste eigentlich doch vor ‚She’s leaving home’ stehen, oder? Und so eine Entscheidung nimmt dir niemand ab. Du stehst mutterseelenallein vor diesem schweißtreibendenden Problem, überdenkst die Sache nochmal gründlich, sammelst Argumente für und wider eine bessere oder schlechtere Platzierung. Aber Moment, ein Ausweg böte sich an.

Du könntest das ganze Jahrhundertalbum der Beatles auf Platz 1 setzen, dann wären vier Plätze für weitere Perlen frei. Nein. Nein und nochmals nein. Das gab es zwar schon im UK, aber das ist doch gegen jede Regel. Dies ist eine persönliche Single-Hitparade, da kann man sowas nicht einreißen lassen. Man hat Prinzipien, eherne Prinzipien. Prinzipen werden schließlich wie Wegweiser aufgestellt. Naja, manchmal auch wie Galgen. (nach Hans Kasper)

Aber … am 10.3.1968 muss ich sie gezwungenermaßen durchbrechen. Die ‚Mass in f minor’ von den Electric Prunes schießt bei mir von 0 auf 1, wo sie auch noch in der Folgewoche klebt. Ihr müsst zugeben, dass man dieses Werk moderner Kirchenkunst unmöglich auseinander brechen kann. Wo bleiben das ‚Kyrie eleison’, ‚Credo’, ‚Sanctus’, ‚Benedictus’ und ‚Agnus dei’, wenn du nur das ‚Gloria’ berücksichtigst? Jeder Priester wird meine Entscheidung verstehen, vielleicht auch einige von euch. Andererseits … ich würde auch verstehen, wenn ihr das nicht versteht …

Eckehard Tebbe - Top 20 Nach einer qualvollen Stunde hast du also endlich die Sortierung von 20 Tracks in Kladde geschafft und willst sie gerade in Reinschrift – den Toptitel blau, Neueinsteiger rot, Zweitwöchler grün, den Rest schwarz – ins Heft eintragen, da spielt Jørgen auf Danmarks Radio ‚Mariner #4’ von den Ventures. Natürlich ist das ein uralter Track, aber du hast ihn noch nie gehört, und er beeindruckt dich bis ins Mark. Nein, dann muss die New Vaudeville Band mit ‚Finchley Central’ doch wieder raus, so leid es mir auch tut nach nur einer Woche auf Platz 18.

Jungs, dafür schiebe ich euern Ohrwurm gleich nochmal in den Player.

‚Finchley Central is two and sixpence
from Golders Green on the Northern Line.
And on the platform, by the kiosk,
that’s where you said, you’d be mine.’
(Stephens / Klein: Finchley Central –
The New Vaudeville Band, 1967)

Die beschriebene verantwortungsvolle Tätigkeit lässt bisweilen den Gedanken in dir aufkommen, dass du schleichend zu einem preußischen Bürokraten verkommst. Es bleibt ja nicht bei den Top 20 pro Woche. Eine Monatsauswertung muss her, und Ende Dezember sollten die Jahrescharts in der Kiste sein. Also rechnest du die Punkte zusammen und weißt dann, dass ‚Je t’aime … moi non plus’ mit 134 Punkten unangefochten der Megahit des Jahres 1969 bei dir ist. Das wundert dich natürlich nicht, denn du hast Jutta in diesem Jahr getroffen, und sie ist der Megahit deines Lebens. Booker T. und die M.G.’s sind mit ‚Time is tight’ nur auf Platz 2, mit lächerlichen 111 Zählern. Sie sind zu bedauern ob dieses unerquicklich deutlichen Abstandes.

Und dann musst du eigentlich mal anfangen, LP-Charts einzurichten, denn die Verkaufszahlen von Singles nehmen ab, und die der Alben nehmen zu. Die Innovation wird am 4.8.1968 installiert. ‚Bookends’ von Simon & Garfunkel ist deine erste Nummer 1. Dass die andern noch nicht auf diese Idee gekommen sind, macht dich richtig stolz. Aber erzähl es nicht weiter, sonst hast du bald Konkurrenz. Oder sind sie einfach nur fauler als du und wollen sich gar keine Gedanken über diese weltbewegende Thematik machen? Nehmen sie ihre Macke etwa nicht ernst? Skandalös!

Am 27.12.1971 wird jedoch das Grande Finale eingeläutet. Ich trage meine Charts zu Grabe. Die letzten Top 20 werden geschrieben, noch einmal sauber in das inzwischen 6. Heft meiner akribischen Dokumentation:

  1. Sly & The Family Stone: Family affair
2. Melanie: Brand new key
3.Three Dog Night: Just an old fashioned love song
4. Bread: Baby I’m a want you
5. Doors: Tightrope ride
6. Isaac Hayes: Theme from ’Shaft’
7. Alice Cooper: Under my wheels
8. Steppenwolf: For ladies only
9. Van Morrison: Wild night
10. Deep Purple: Fireball
11. Temptations: Superstar
12. Middle of the Road: Sacramento
13. Sonny & Cher: All I ever need is you
14. Uriah Heep: Lady in black
15. Cher: Gypsys, tramps and thieves
16. John Lennon: Imagine
17. Marvin Gaye: Inner city blues
18. Slade: Coz I luv you
19. John Kongos: Tokoloshe man
20. Neil Diamond: Stones

Wieso trägt diese Seite eigentlich keinen Trauerrand …

Sie müsste, denn so etwas abreißen zu lassen, fällt verdammt schwer. Es ist ähnlich wie bei einem Tagebuch. Du hast Jahre mit schöner Regelmäßigkeit Tag für Tag minutiös festgehalten und sollst deinen Fleiß nun sang- und klanglos abhaken? Das ist, als ob dir ein Ohr amputiert wird. So ähnlich jedenfalls. Denn das, was du dort in die Seiten gemeißelt hast, ist von weltbewegender Faszination, ein literarischer Everest sozusagen. Das kannst du nicht auf eine Stufe stellen mit einem Maxi-Container voller 120 Millionen vertickter Bohlen-Gurken, die du von der Bedeutung her locker unter jedem noch so flachen Türschlitz durchschieben kannst.

Und falls es noch jemanden interessiert …

In den mehr als fünf Jahren waren die Beatles die erfolgreichsten Chartsstürmer bei mir. Darauf wärt ihr nie gekommen, oder? Dann noch eine herzzerrei-ßende Peinlichkeit: ‚Je t’aime’ ist nur auf Platz 2 meiner ‚ewigen’ Bestenliste. ‚Sweet Caroline’ hat ein paar Punkte mehr gesammelt. Sorry, Jutta, ich werde das irgendwie gut machen …

So, und jetzt habe ich auch mal schnell die CD mit meinen Top-Hits von 1966 im Kasten. Schön chronologisch alle 23 Nummer-1-Titel von der Spencer Davis Group bis zu den Who. Die Freaks unter euch werden natürlich mit Kennerblick feststellen, dass ich da kräftig geschummelt habe. ‚All or nothing’ kam erst im September raus, und 23 Wochen kommen danach schwerlich zusammen. Der Wochenrhythmus hatte sich eben noch nicht eingependelt. Aber als Besessener kannst du es kaum aushalten, einen regulären Abstand der Notierungen einzuhalten. Später läuft alles ganz bürokratisch am Sonntagnachmittag.

E. T. Charts 1966