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Feb 18 2012

Das Nestlé-Werk Kappeln

Nach meinem Artikel über das Bekleidungswerk Liening hatte ich mir schon im vergangenen Jahr vorgenommen, mich auch einmal näher mit dem Nestlé-Werk in Kappeln zu befassen.

Wie ich schnell bemerkt habe, ist diese Materie aber ungleich komplexer, handelt es sich bei der Nestlé schließlich um eine Weltfirma, die fast auf dem ganzen Globus vertreten und deren Produktpalette kaum noch überschaubar ist. Auch vor über 80 Jahren gab es bereits in vielen Ländern der Welt Fabriken und Niederlassungen, die zur Nestlé gehörten bzw. für die Nestlé produzierten. Die meisten Tochterfirmen arbeiteten zunächst rechtlich und organisatorisch voneinander unabhängig und wurden erst ab den dreißiger Jahren über Holdings zu einem Großkonzern zusammengeführt.

Meine Ausführungen beschränken sich im Wesentlichen auf das Nestlé-Werk in Kappeln bis in die sechziger Jahre und die dort erzeugten Produkte, insbesondere den NESCAFÉ.

Viel intensiver als der häufig erwähnte morgendliche Fischräucherduft über Kappeln ist mir seit meiner Kindheit der brandige Kaffee-Geruch in der Nase hängengeblieben, der sich von der Nestlé-Fabrik häufig über ganz Dothmark und manchmal sogar über ganz Kappeln ausbreitete. Besonders intensiv „roch“ es dort, wo die Röstrückstände aus der NESCAFÉ-Produktion nach der Reinigung der Sprühtürme in die Schlei eingeleitet wurden. Ergänzt durch die weißlichen Schwaden aus den Abwässern der Milchpulverproduktion machte das Schleiwasser nicht gerade einen einladenden Eindruck, was aber einige Fischarten keineswegs störte. Sie fühlten sich in diesem Sud so wohl, dass wir Kinder vom Angeln an der Schlei gleich unterhalb der Nestlé immer eine reiche Ausbeute an Plötzen mit nach Hause brachten, die allerdings bei unseren Müttern ziemlich verpönt waren – wegen ihrer Herkunft und ihres leicht modderig-penetranten Geschmacks. Einmal fing ich sogar einen Aal, den mir meine Großmutter zubereitete – ich fand ihn nicht schlecht und habe ihn stolz verzehrt.

Milchverarbeitung an der Schlei

Bedingt durch die ausgeprägte landwirtschaftliche Struktur gab es in Angeln und Schwansen bereits im 19. Jahrhundert Bestrebungen, neben der Sicherstellung der Volksernährung auch die Vermarktung der eigenen Produkte zu verbessern. Dies betraf nicht zuletzt auch die zunehmende Milcherzeugung, die ursprünglich auf den Höfen selbst und dann in unzähligen kleinen Meiereien weiterverarbeitet wurde.

So wurde 1888 auf einer Bauernversammlung in Kappeln die „Freie Meiereivereinigung Kappeln“ gegründet und der Bau einer Genossenschaftsmeierei beschlossen, in welcher Käse, Butter, Mager- und Buttermilch produziert wurden.

Kappeln - Milchtrocknungswerk (ca. 1920)Zwanzig Jahre später wurde – in Konkurrenz zur genossenschaftlich geführten Meierei – vom Meiereiverband Südschleswig die privatwirtschaftliche „Trocknungsbetriebsgesellschaft Südschleswig mbH“ gegründet und der Bau eines Milchtrocknungswerkes am Standort Kappeln beschlossen, welches 1919 in Betrieb genommen wurde.

Die Meiereivereinigung Kappeln lehnte allerdings Milchlieferungen an das Trockenwerk ab, da die gesamte Milchpulverproduktion vom Hamburger Staat übernommen wurde, um mangels ausreichend verfügbarer Frischmilch die Bevölkerung der Großstadt mit Trockenmilch zu versorgen. Für die Meierei-Genossen hatte die Versorgung der heimischen Bevölkerung Vorrang.

Schon wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte sich die Versorgungslage wieder stabilisiert und der Trockenmilchabsatz brach ein. 1923 musste der Betrieb, der inzwischen an die „Milchwerke Angeln GmbH“ verkauft worden war, eingestellt werden.

Nestlé in Kappeln

1927 suchte die Nestlé-Tochterfirma „Linda-Gesellschaft für kondensierte Milch und Kindermehl mbH“ ein geeignetes Milchgebiet in Norddeutschland und pachtete das Werk in Kappeln. 1928 wurde die „Deutsche AG für Nestlé-Erzeugnisse“ gegründet, in welcher die Linda-Gesellschaft aufging. Erst Anfang 1941 wurde das Kappelner Nestlé-Werk käuflich erworben.

Nestlé - IDEAL MILCHIn den 30er- und 40-er Jahren wurden verschiedene neue Produkte und Produktionsverfahren entwickelt. Während die Herstellung von Schmelzkäse und Dosenbutter aufgrund schlechter Absatzzahlen bald wieder eingestellt wurde, war die Produktion von IDEAL-Dosenmilch sehr erfolgreich und wurde 1932 komplett nach Kappeln verlagert.

Ab 1928 wurde die Nestlé auch von der Freien Meiereivereinigung mit Milch beliefert. Weil die Aufnahme überschüssiger Milchmengen zu einer nicht unbedeutenden Marktentlastung führte, wurde stets neue Lieferverträge mit dem Nestlé-Werk abgeschlossen. So konnte eine stetig wachsende Milchmenge z. B. über die Kondensmilch dem Trinkmilchmarkt zugeführt werden. Für die absatzferne Lage Angelns und Schwansens war dieser Marktausgleich von erheblicher Bedeutung.
Nestlé - Pelargon
Wegen zunehmend rückläufiger Verfügbarkeit von Roh- und Hilfsstoffen während des zweiten Weltkriegs musste die Kondensmilchproduktion jedoch immer weiter heruntergefahren und 1945 schließlich ganz eingestellt werden.

Kappeln - Nestlé-Werk (1939)Ab 1942 wurden hauptsächlich Milchpulver und die Säuglingsnahrung Pelargon hergestellt.

Mit der über Jahre weitgehend eingehaltenen Nestlé-Tradition, nur Nahrungsmittel herzustellen, die in irgendeiner Weise Milch enthielten, wurde 1938 gebrochen: Mit dem Löslichkaffee NESCAFÉ entstand ein völlig neues Produkt.

NESCAFÉ

Ballade von den Säckeschmeißern

Oh, mich zieht ’s nach einem fernen Lande,
Wo die schlanke Tropenpalme prangt.
In Brasilien, am Rio Grande,
Werden Kaffeesackschmeißer verlangt.
Es gibt zuviel Kaffee auf der Welt.
Und darum pro Zentner zu wenig Geld.
Drum wird, so will es das Weltgewissen,
Die halbe Ernte ins Wasser geschmissen.

In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts herrschte in Brasilien eine Kaffeeschwemme. Regelmäßig wurden große Teile der Kaffeeernte vernichtet, um die Preise und Profite künstlich hoch zu halten. Auf der Suche nach Auswegen wurde die Idee geboren, Kaffee in Konzentratform zu konservieren, um Produktionsschwankungen auszugleichen und weitere Käuferschichten zu erschließen.

Die ersten Versuche, Kaffee in Form von Bohnen- oder flüssigen Extrakten anzubieten, setzten sich aber nicht durch, da nicht nur die Löslichkeit, sondern auch Geschmack und Aroma sehr zu wünschen übrig ließen. Deshalb wandte man sich 1930 mit dem Problem, ein Kaffeekonzentrat in Würfelform herzustellen, welches das Aroma bewahrte und sich leicht in heißem Wasser auflösen ließ, an den damaligen Schweizer Nestlé-Direktor.

Nach jahrelangen Studien und Experimenten im Nestlé-Forschungslaboratorium in Vevey erzielten die Chemiker 1937 schließlich das gewünschte Ergebnis: Nescafé-Dose aus Weissblech (1938) - Foto: Alimentarium, Museum der ErnährungDie Konservierung der flüchtigen Aromastoffe erreichte man durch Beigabe von Kohlenhydraten und die Wasserlöslichkeit dadurch, dass das Kaffee-Konzentrat nicht in Würfel- sondern in Pulverform hergestellt wurde, was zudem eine beliebige Dosierung erlaubte. Der NESCAFÉ war geboren.

Nachdem die Techniker auch die Schwierigkeiten der industriellen Umsetzung des Verfahrens überwunden hatten, konnte das neue Erzeugnis in Produktion gehen. Die erste NESCAFÉ-Fabrik entstand in Orbe, und am 1. April 1938 wurde der Löslichkaffee in der Schweiz erstmals zum Verkauf angeboten.

Bald darauf wurde mit der NESCAFÉ-Fabrikation auch in Frankreich, in Großbritannien und in den USA begonnen, wo das Kaffeepulver zunächst nur schwerpunktmäßig auf den Markt gebracht wurde, um die Resonanz bei den amerikanischen Verbrauchern zu testen, die alle positiven Erwartungen übertraf.

Kriegswirtschaft

Der japanische Angriff auf Pearl Harbor 1941 führte zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und dem damit verbundenen Aufbau einer effizienten Kriegswirtschaft, in der die Bedürfnisse der Marine und der Armee über Jahre absoluten Vorrang genossen. Massenhaft wurden Dauerlebensmittel für die Versorgung der Truppen eingekauft, unter denen der Löslichkaffee NESCAFÉ einen wichtigen Platz einnahm. Neben ungezuckerter Kondensmilch und Milchpulver trat er bald seinen „Siegeszug“ um die Welt an.

In der amerikanischen Armee wurde der Gebrauch von Löslichkaffee zur üblichen Praxis, und durch Abgabe an die Zivilbevölkerung in den befreiten europäischen Ländern, den verarmten Mittelmeerstaaten und nach dem Sieg über die Japaner in Asien wurde er zu einem allgemeinen Konsumgut.

Wie in den USA wurde spätestens ab 1941 die Konsumgüterindustrie in Deutschland ebenfalls weitestgehend in den Dienst der Rüstung gestellt. Dazu gehörte auch hierzulande die NESCAFÉ-Produktion.

Nachdem der neue Löslichkaffee bereits erfolgreich den amerikanischen Markt erobert hatte, zeigten sich die deutschen Behörden eher zögerlich. Für Berlin war dieses Konsumgut zweitrangig, da zur Herstellung des neuen Pulvers zunächst Kaffee eingekauft werden musste, wozu wiederum Devisen benötigt wurden. Außerdem wurde die Einfuhr durch die alliierte Seeblockade erschwert und kostspielig.

Schließlich war es die Wehrmacht, die im Zusammenhang mit dem Russlandfeldzug den Wert dieser Innovation erkannte und ab 1942 deren Produktion ausschließlich für ihren eigenen Gebrauch autorisierte. Anfang 1943 war die Geburtsstunde der industriellen Produktion von NESCAFÉ in Deutschland. Nachdem im Nestlé-Werk in Kappeln die erste Exraktionsanlage installiert worden war, wurde Kappeln zum Standort der NESCAFÉ-Produktion für die deutsche Wehrmacht.

Für die Sicherstellung der Kaffeeversorgung deutscher Soldaten an der Ostfront und bei der Luftwaffe wurden im Kappelner Werk auch Zwangsarbeiter eingesetzt. Im August 1943 betrug deren Quote etwa 30 Prozent der – überwiegend weiblichen – Belegschaft. Die „Ostarbeiter“ hausten in einem geschlossenen firmeneigenen Stacheldraht-gesicherten Barackenlager, das nur zur Verrichtung der ihnen zugewiesenen Arbeit verlassen werden durften. Ein Leben unter menschenwürdigen Bedingungen wurde schon durch die Belegungsdichte verhindert. Im Nestlé-Werk Kappeln wurden 38 Personen in zwei Baracken auf 59,4 Quadratmetern zusammengepfercht.

Knapp 60 Jahre später beteiligte sich Nestlé dann – auf freiwilliger Basis – an den nationalen Stiftungen Deutschlands und Österreichs zur Entschädigung von Zwangsarbeitern im Dritten Reich.

„Von einigen Unternehmen der Nestlé-Gruppe, die in den nationalsozialistisch beherrschten Ländern tätig waren, steht fest oder ist anzunehmen, dass Zwangsarbeiter beschäftigt wurden“, erklärte der Nahrungsmittelkonzern. Nestlé sei zwar damals noch nicht Eigentümerin dieser Firmen gewesen. Als Rechtsnachfolgerin nehme sie jedoch die „moralische Verantwortung wahr, einen Beitrag zur Milderung menschlichen Leidens zu leisten“.

Nachkriegszeit

Kappeln - Nestlé-Werk (1957)

Kappeln - Nestlé-Werk (1958)

Kappeln - Nestlé-Werk (1959)

Nach dem Endes des Zweiten Weltkriegs wurde im Nestlé-Werk Kappeln 1948 zunächst die Dosenmilch- und 1949 auch die NESCAFÉ-Produktion wieder aufgenommen und bis zur Einführung des Gefriertrocknungsverfahren Mitte der 60er-Jahre fortgeführt.

NESCAFÉ-Werbung (1952)Lebensmittel-Auslage mit IDEAL-MILCH (1951)Die Beschäftigtenzahl stieg von 170 in den ersten Nachkriegsjahren auf über 700 im Jahr 1960.

Nachdem die Pulverkaffee-Herstellung in das neue Werk für Kappeln - Nestlé-Anzeige (1954)NESCAFÉ und NESQUIK in Mainz verlagert worden war, wurde in Kappeln neben der Milchpulverherstellung (NIDO) die Palette im Bereich diätetischer Produkte ausgeweitet und zusätzliche Kappeln - Nestlé-Werk - Frischmilch-Annahme und -Kontrolle (1959)Produkte wie z.B. Fruchtgetränkepulver aufgenommen.

1970 betrug die die Zahl der Beschätigten etwa 300.

1976 wurde das Kappelner Werk in die „Allgäuer Nestlé - NIDO-Verladung im Kappelner Hafen -  Foto von Eckhardt Schmidt aus dem Stadtarchiv KappelnAlpenmilch AG, München“ integriert. 1998 entschied der Nestlé-Konzern, den Standort Kappeln ganz aufzugeben.

Massive Proteste der Beschäftigten und der Kappelner Bevölkerung führten jedoch dazu, dass das Werk nicht geschlossen, sondern 1999 von der CREMILK GmbH übernommen wurde, an der Nestlé mit 25% beteiligt war.

So konnten fast 200 Arbeitsplätze erhalten und die Milchverarbeitung in Kappeln mit jährlich etwa 60 Mio. kg gesichert werden. Begonnen hatte sie 1888 mit 700.000 kg Milch pro Jahr.

Kappeln - Nestlé-Werk - Abfüllanlage für NESCAFÉ in Dosen (1959)

 Nestlé-Werk in Kappeln – Abfüllanlage für NESCAFÉ in Dosen (1959)

Literaturhinweise und Links

Jürgen Kube: Über 100 Jahre Milchverarbeitung in Kappeln
in: Kappeln Sechshundertfünfzig
656 Seiten, 10 €, ISBN 978-3779369189
Heimatverein der Landschaft Angeln e. V., 2007

Jean Heer: Nestlé – Hundertfünfundzwanzig Jahre von 1866 bis 1991
562 Seiten, Firmenschrift
Nestle AG, Vevey, 1991

Albert Lüthje, Robert Göttsche: 90 Jahre Zentral-Meierei eG Kappeln/Schlei
235 Seiten, Firmenschrift
Zentral-Meierei eG, Kappeln, 1978

Cremilk Kappeln – Milch in Pulverform
shz.de vom 07.05.2011

Meierei Kappeln – In sieben Jahren ging die Hälfte der Mitglieder verloren
shz.de vom 24.05.2011

General Foods greift an
DER SPIEGEL 37/1955 vom 07.09.1955 | PDF

Magd in der Tüte
DER SPIEGEL 30/1963 vom 24.07.1963 | PDF

Hitlers stille Helfer
SPIEGEL online vom 30.08.2001

Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg
Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK)
600 Seiten, ISBN 3-85842-601-6
Pendo, Zürich, 2002
PDF (1,8 MB)

Nestlé beteiligt sich an Zwangsarbeiter-Stiftung
RP online vom 28.08.2000

Zwangsarbeit in Schleswig-Holstein
Forschungsgruppe „Zwangsarbeit in Schleswig-Holstein“ (FGZSH)

Ernst Busch – Lieder der Arbeiterklasse & Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg
CD, Pläne, ISBN-13: 4007198839876
Ballade von den Säckeschmeißern
Text: Julian Arendt / Ernst Busch; Musik: Hanns Eisler