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Mai 18 2020

Von Kiel nach Kappeln (3.1)

Wie ich schon im Kommentar zur zweiten Episode dieser Geschichte angemerkt habe, war eine Fortsetzung eigentlich nicht vorgesehen, insbesondere weil an dem Ort, an dem es weitergeht, keine uns bekannten Namen, Straßen und Geschäfte vorkommmen.

Ausnahme (vielleicht): Konrad Reinhardt, der dort geboren ist.

Das allein ist jetzt für mich Grund genug, weiterzumachen.

Von Kiel nach Kappeln

von Erich Thomsen

~ (3.1) Gotenhafen ~

Mein Vater wurde von der „Deutschen Werke AG“ Kiel nach Gotenhafen versetzt. Er wohnte schon von Ende 1940 in einem kleinen Dorf Cissau, etwa 6 km von Gotenhafen entfernt. Er holte uns, seine Familie, 1943 nach. Wir bekamen einen Teil der Wohnung von Schröders, die ein Milchgeschäft führten.

Als wir ankamen, wurden wir von Frau Schröder empfangen und bewirtet. Sie hatte drei Söhne und eine Tochter. Ihr Mann war Soldat. Sohn Siegfried war wohl 8 Jahre, Eckard 7 Jahre und der jüngste Sohn Peter 2 Jahre alt. Die Tochter hieß Miralda, war so alt wie meine Schwester Inge, 5 Jahre alt und wurde Goldi genannt.

Wie wohnten wir? Unten war das Milchgeschäft, wo meine Mutter später auch mit verkaufte. Wir gingen von der Straßenseite des zweigeschossigen Hauses ins Treppenhaus. Unten rechts ging es in die Wohnung mit Laden der Schröders. Man kommt in den Flur. Links davon ist die Küche, rechts geht es in den Laden. Die nächste Tür links ist das Bad/WC. Das Haus hatte schon Wasserspülung.

Geradeaus ging es ins Wohnzimmer. Von hier ging eine Tür ins Warenlager und von da auch in den Laden. Das Wohnzimmer diente auch als Büro. Es stand links am Fenster ein Schreibtisch und unterm Fenster ein Chaiselongue. Der Tisch stand in der Zimmermitte und die Stühle drumherum. An der Wand eine Anrichte. Damit war das Zimmer auch voll.

Eine Besonderheit hatten die Schröders noch: Eine Polin mit Namen Josepha war als Hausmädchen angestellt. Ich weiß nicht, wie alt sie wohl war, aber sie war verlaust. Sie musste auch kochen und die Kinder passen. Frau Schröder war ja tagsüber im Laden mit noch zwei Frauen beschäftigt.

Man muss daran denken, dass Krieg war und Deutschland hatte Polen besetzt. Es gab also Polen, die laut Ausweis auch als Polen geführt wurden. Polen, die sich eindeutschen ließen, wurden als Eingedeutschte registriert. Dann gab es noch Volksdeutsche Polen mit entsprechendem Pass und uns Reichsdeutsche. So unterschiedlich wurden die Leute, die ins Milchgeschäft kamen, auch bedient. Man musste sich als Kunde gleich in die entsprechende Schlange einreihen, weil die Produkte von der Qualität her unterschiedlich gekennzeichnet waren.

So waren die Butterverpackungen für Reichsdeutsche mit roter Aufschrift, für Volksdeutsche mit blauer, Eingedeutschte mit grüner Schrift versehen. Die Polen bekamen keine Butter. Die Lebensmittelkarten waren entsprechend von der Gemeindeverwaltung ausgegeben worden. So unterschiedlich wurde auch die Milch verteilt. Vollmilch, entrahmte Frischmilch, Magermilch und die Käsesorten. So wurden täglich die 40 Ltr.-Kannen getauscht und es standen morgens ca. 8-10 Kannen vor dem Geschäft.

Das Haus lag von der Chaussee, die von Gotenhafen nach Neustadt führte, etwa 20 m entfernt und es führte ein Sandweg an diesem und dem Nachbarhaus vorbei. Wir wohnten also in der Neustädter Str. 205. lm Nachbarhaus war ein Kolonialwarenladen.

Nun zurück zu unserer Wohnung. Eine Treppe höher links wohnten wir. Geradeaus war die Wohnung vom Schneider Kochulsky, schon ältere Leute. Rechts wohnte Frau Ebel, ihr Mann war eingezogen. Bei uns ging es gleich links in die Küche, daneben war das Bad/WC, geradeaus das kombinierte Wohn/Schlafzimmer. Das Zimmer rechts wurde von Frau Schröder als Schlafzimmer genutzt. Es lag über dem Laden mit Fenster zur Straße. Hier schliefen Mutter und Kinder.

Wir hatten es beengt. Mutter und Vater ein Eisenbettgestell, gleich links an der Wand. Ich ein Eisenbettgestell unterm Stubenfenster, Blick auf den Bauernhof und Försterei Brandt. Inge schlief auf dem Chaiselongue. Tisch und Stühle in der Mitte. Ein Regal mit unserer modernen Buffetuhr mit dem Westminsterschlagwerk. Das einzige Möbelstück von zu Hause, Die Möbel waren ja alle bei Jessen auf dem Dehnthof im Speicher untergestellt. Ach ja, ich hatte meine elektrische Eisenbahn mit nach Gotenhafen.

Als Kind hat man schnell Kontakt zu anderen Kindern. Die Schröders waren nicht in meinem Alter. Bei Koschinsky hießen die Kinder Stephan, Mario, Aloise und Halina. Im Nebenhaus beim Kaufmann Putrikus war eine ältere Tochter und Stanislawa, die nur Stacha genannt wurde. Sie war so alt wie ich und wir mochten uns auch gerne leiden. Dann war da noch ein weiteres Haus, das weiter zur Hauptstraße lag. Dort wohnte auch ein Mädchen, aber der Name ist mir entfallen.

Im Hof dieses Hauses war noch ein Gebäude, in dem eine Riesenwäschemangel stand, die von allen genutzt werden konnte. Hinter dem Haus führte ein Sandweg zum Wald. Im Wald wuchsen die Blaubeerbüsche auf riesigen Flächen. Zurzeit der Reife wurden die Beeren gekämmt und von den Frauen in großen Körben im Milchgeschäft angeboten. Eingezuckert mit Milch war es in dieser Zeit oft unsere Mahlzeit.

Über diesen Weg und durch den Wald kam man zum Ort Grabau-Abbau und weiter bis nach Gotenhafen rein. Ein schöner Wanderweg. In Grabau wohnte ein Schulkamerad, ein Pole, mit seiner Mutter in einer Baracke. Ein einziges Mal habe ich ihn dort besucht. Er kam im Anschluss nach der Schule noch mit zu mir, um zu spielen. Gewöhnlich wurde aber im Bereich der Höfe gespielt.

Beim Förster Brandt waren zwei Jungen. Mit Joachim habe ich viel gespielt. Er hatte auf dem Boden eine Kammer eingerichtet, in der er alles Mögliche gesammelt und aufgestellt hatte. An eine Büste von einem polnischen General Pilsutzki kann ich mich noch erinnern.

Auf dem Hof bei Brandt haben wir oft das Messerspiel „Landklauen“ gespielt. Es wurde ein Kreis in den Sandboden geritzt und in zwei Hälften geteilt. Mit dem Messer wurde so geworfen, dass genau in Klingenrichtung, also wie die Klinge im Erdboden der Hälfte des Gegners steckte, der Strich weitergezogen wurde bis zum Kreisrand. Dann wurde mit der Hand der Strich, der noch gerade die Hälfte markierte, weggewischt, um den Landzuwachs deutlich zu machen. Nun war der Andere dran, der nun seinerseits versuchte, ein möglichst großes Stück abzutrennen.

Ein anderes Spiel mit dem Taschenmesser war, die Vorgabe des ersten Werfers nachzumachen. Das Messer wurde an der Klinge angefasst und musste sich einmal überschlagen, um dann in der Erde steckenzubleiben. Es wurde im Stehen gespielt. Man konnte sich Schwierigkeitsgrade ausdenken, wie z. B. von der Nase, vom Handrücken usw. Wichtig war die Drehung, so dass die Klinge in der Erde stecken blieb. Wer dies nicht schaffte, und das Messer lag, kriegte einen Minuspunkt. So viele Kieselsteine, so viele Minuspunkte.

Eine lustige Sache war auf dem Hof das Versteckspielen. Es gab unwahrscheinlich viele Verstecke, weil die Gebäude dazu einluden. Im Pferdestall durften wir nicht spielen. Da haben wir uns auch nur mal Melassestücke aus der Häckselkiste geholt. Die schmeckten süß wie Sirup.

Gegenüber dem Wohnhaus war die große Scheune, davor die durch Pferdeantrieb laufende Dreschmaschine. Hinter der Scheune links war das kleine Backhaus. Der Geräteschuppen grenzte den Hof zum Viereck ab. Hier haben wir mal den Förster mit seiner Dienstmagd beobachtet, wie sie sich geküsst haben, wo das Kaminholz aufgestapelt war. Die hätten sich besser verstecken sollen.

Schön war auch der Tag bei Brandts, wenn Kartoffelernte war. Ein großes Feld mit Kartoffeln lag an der Scheune. Neben dem Backhaus wurde das Kartoffelkraut verbrannt. Ein paar große Kartoffeln wurden ins Feuer geworfen und schwarz, aber gar, wieder rausgeholt. Uns schmeckten diese Kartoffeln wunderbar. Weil sie so heiß waren, wurden sie auf einen angespitzten Stock gesteckt und mit dem Taschenmesser von der Pelle befreit.

Wir spielten auch, wenn es draußen regnete, bei uns im Keller. Unser Kellerraum lag gleich, wenn man die Treppe runter kam, rechts. Geradeaus war der Luftschutzraum mit Feldbetten und Stühlen, dort durften wir nicht rein. Also das Spiel ging ganz einfach: Ein paar Jungen und Mädchen saßen nebeneinander auf Kisten (sicherlich bös staubig).

Einer musste nun Faxen und Grimassen machen, um die anderen zum Lachen zu bringen. Alle bemühten sich natürlich krampfhaft, denn die Albernheiten waren schon zu drollig. Wer ab war, wurde zu irgendetwas verdonnert. Meistens musste derjenige eine bzw. einen küssen. Bei Regenwetter gar nicht schlecht.

Eine Begebenheit war es auch, wenn der Schlammsaugedienst kam. Es war ein Riesenfahrzeug mit einem großen Tank. Die Kanalisation der beiden Häuser hatte eine gemeinsame Auffang-Grube. Als nun der Wagen gefüllt war, der Fahrer und sein Helfer eingestiegen waren, habe ich mich hinter dem Fahrzeug auf eines der Trittbretter gestellt und bin mitgefahren bis zu den Feldern hinter der Bahnstrecke Gotenhafen/Neustadt.

Hinter dem Bahnübergang hielt der Wagen und ich bin schnell abgesprungen. Der Beifahrer hatte das aber bemerkt und wollte mich mitnehmen zur Polizei. Eine Kundin vom Milchgeschäft kannte mich und hat mit dem Mann polnisch geredet und das hat bewirkt, dass er mich wieder im Fahrerhaus mit zurücknahm, nachdem der Inhalt auf dem Feld aufgebracht war. Es war für mich eine Lehre.

Es gab natürlich auch Pflichten! Zum Beispiel: Schule. Als ich am ersten Tag in die Klasse kam, wurde ich von der Lehrerin vorgestellt, und musste etwas von Schleswig-Holstein und Kappeln erzählen. Es war eine Klasse mit ca. 25 Jungen und Mädchen. Die Schule war ganz in der Nähe, ungefähr 800 m an der selben Straßenseite.

Ein kleiner Weg führte zur Schule, die einige Klassenräume und die Hausmeisterwohnung im Kellergeschoss hatte. Im ersten Geschoss waren Rektor- und Lehrerzimmer, einige Klassen und der große Flur. Bei besonderen Anlässen diente der Flur auch als Aula. In Polen hatten die Häuser Flachdächer, so auch die Schule. Im Kellergeschoss war auch ein größerer Werkraum. Sport wurde auf dem Schulhof abgehalten. Hier waren für den Dreikampf die Sprunggrube, Wurfbahn und die Strecke für den 100-Meter-Lauf. Sport wurde zu der Zeit sehr gefördert. Der Dienst in der Hitler-Jugend wurde auch einmal in der Woche abgehalten.

Es gab aber auch noch die alte Dorfschule, reetgedeckt mit großem Garten. Hier wohnten ein älterer Lehrer und ein Fräulein Lehrerin. Beim Alten hatten wir Naturkunde in seinem Garten. Er ließ sich in dieser Stunde von den Kindern das Unkraut jäten oder ein Stück graben von den großen Jungs. Sein Rohrstock war schnell in Bewegung und traf meistens die Handrücken und Finger, nicht doll, aber empfindlich.

Kapitelübersicht

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4 Kommentare

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  1. admin

    Als ich – sechseinhalbjährig – in die Schule kam, konnte ich noch kein Wort lesen.
    Wie schnell sich das dann änderte durch einen Leseunterricht, dem ich rückblickend eine gewisse Absurdität nicht absprechen kann, ist mir bis heute ein Rätsel.
    Ich denke, ihr habt ähnliche Erfahrungen.
    Als ich dann „schlagartig“ lesen konnte, war kein Buch mehr vor mir sicher.
    Und als ich plötzlich 1960 – zehnjährig – mit Kinderlähmung für viele Wochen in der Isolierstation in Flensburg-Mürwik landete, war der „Reader’s Digest“ zumindest so etwas wie eine mentale Rettung.
    Ich weiß nicht, wo die Schwestern das Zeug herholten, aber in dieser schlimmen Zeit habe ich mindestens 30 Ausgaben verschlungen.
    In diesen zeitschriftartigen Büchern habe ich schnell – für ein Kind in diesem Alter eher ungewöhnlich – mein Faible für Biografien entdeckt.
    Schon damals – wie auch heute noch – waren für mich die Kinder- und Jugendjahre der jeweiligen Protagonisten immer die spannendsten.
    Die Kindheit hat mit ihrer Unbefangenheit und ihrer unschuldigen Seele einfach etwas Ewiges.
    Wann uns diese Unschuld abhandengekommen ist, bleibt gleichwohl ein ewiges Rätsel.
    Warum schreibe ich so einen Kommentar?
    1. Weil mich einfach alle persönlichen Lebensgeschichten faszinieren, wenn sie autobiografisch erzählt und nicht von „Dritten“ kolportiert werden – so wie meine eigene, von der ich gerade wieder einmal ein Stück preisgegeben habe.
    2. Weil dies eine Kinder- und Jugendgeschichte ist, die letztlich sogar in Kappeln endet.
    Also werde ich mich mal an die (dramatische) Fortsetzung ranmachen.

  2. Heino Küster

    Eine wunderschöne Reise in die Vergangenheit. Ja, so hat man früher gespielt, in einfachsten Verhältnissen gelebt, bin gespannt, wie es weiter geht… :!:

  3. Konrad Reinhardt

    Auch wenn es sich nicht um Kappeln dreht. Ich finde es sehr interessant. Ich denke auch viele andere SZRnde werden sich für die Kindheitserinnerungen von Erich Thomsen interessieren, weil wir so einen Einblick in eine andere Zeit erhalten.

  4. Maren Sievers, geb. Bonau

    Auch wenn ich die Örtlichkeiten nicht kenne, das ist trotzdem sehr informativ
    und lesenswert, gerade auch was die Wohnverhältnisse angeht. Und das die
    Kinder früher mehr draussen gespielt haben, war noch Mitte der Sechziger
    in meiner Kindheit so. Alle großen und kleinen Nachbarskinder zusammen.
    "Umgedrehter Heringsschwanz", und Verstecken am Teich in Höxmark
    gehören zu meinen Erinnerungen, die ich nicht missen möchte. Ebenso
    Radtouren rund um Brodersby/Drasberg oder nach Lückeberg an den Strand.
    In den Knicks rumklettern oder im Graben angeln machte auch Spass.Und kein
    Elternteil wollte wissen, wo wir gewesen sind, Hauptsache wir waren kurz
    vorm Dunkelwerden wieder zuhause. Für heutige Helikoptereltern undenkbar.

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