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Okt 07 2011

Bekleidungswerk Liening

Demnächst gibt es wieder mehr zum Thema Schulzeit, vor allem viele neue (alte) Fotos. Heute aber zur Abwechslung erst einmal ein Artikel ganz anderer Art, nämlich eine Zeitreise in das Kappeln der Nachkriegszeit.

Ich habe da lange dran gesessen, und mir ist klar, dass er trotz zahlreicher Kürzungen immer noch viel zu lang ist. Sei’s drum. Wer nicht so viel lesen mag, schaut sich halt die Bilder an.


Die frühesten Erinnerungen aus meiner Kindheit in Kappeln sind vor allem geprägt von einigen besonderen Örtlichkeiten und den dazugehörigen Menschen.

Kappeln - Flüchtlingsbaracke 1949Kappeln - Flüchtlingsbaracke 1949Unter anderem kommen mir immer wieder die Flüchtlingsbaracken auf Dothmark in den Sinn, in denen meine Großeltern lebten, bevor sie in eine kleine Mietwohnung in einem der neuen Wohnblocks in der Königsberger Straße umziehen konnten – ganz passend, weil sie ja selbst aus Königsberg stammten.

Kappeln war nach dem Krieg voller Flüchtlinge.


Schleswig-Holstein

Im ganzen Land Schleswig-Holstein lebten bei der Volkszählung im Mai 1939 knapp 1,6 Millionen Menschen, bei der ersten Erhebung nach dem Krieg im Oktober 1946 waren es bereits 2,6 Millionen, fast die Hälfte davon Flüchtlinge. Allein von Anfang März bis Ende Juni 1945 kamen an die 700.000 Menschen neu ins Land.

Begünstigt durch den Umstand, dass es Anfang 1945 noch nicht von alliierten Truppen besetzt war, hatte damals kein anderes Land auch nur einen annähernd so hohen Zuzug zu verkraften wie Schleswig-Holstein. Dadurch hatte es die prozentual höchste Arbeitslosigkeit und die höchsten Fürsorgelasten pro Kopf der Bevölkerung, andererseits das geringste Steueraufkommen aller damaligen Länder.

Zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene mussten jahrelang beengt und isoliert in Lagern leben. Ende 1948 waren mehr als 180.000 Zugereiste in ehemaligen Lagern des „Reichsarbeitsdienstes“, Zwangsarbeiterlagern oder eigens angelegten Massenunterkünften notdürftig untergebracht.

Erst nach Gründung der Bundesrepublik konnten ab 1950 endlich Umsiedlungsvorhaben realisiert werden, die zuvor an der Starrheit der anderen Länder gescheitert waren. Allerdings waren bis dahin auch viele Zugezogene Flüchtlingsausweis 1950heimisch geworden und blieben: 1969 betrug der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen und sowie deren Nachkommen, also der Einwohner/-innen  mit „Migrationshintergrund“, etwa ein Drittel aller Schleswig-Holsteiner/-innen.

Kappeln

Im Vergleich zum Land waren in der Stadt Kappeln die Zuwanderungs-Verhältnisse noch dramatischer. Bedingt durch seinen geschützten Hafen hatte es besonders viele über die Ostsee flüchtenden Menschen aufnehmen können. Nachdem im Mai 1939 noch 2834 Einwohner gezählt wurden, drängten sich nach dem Zusammenbruch kurzfristig zigtausend Menschen in der Stadt, was zeitweise chaotische Wohnungs- und Versorgungsverhältnisse zur Folge hatte.

Als sich die Masse der Zugezogenen nach und nach auf die Region verteilt hatte, lebten in Kappeln im Oktober 1946 dann 4841 ständige Einwohner/-innen und im September 1950  5004, also immer noch zwei Drittel mehr als vor dem Krieg.

Auch in den Schülerzahlen der Klaus-Harms-Schule spiegelt sich die damalige Bevölkerungsexplosion wider: sie lagen bis 1936 unter 100, zum Kriegsende bei 185, 1946 bereits bei 338 und 1947 sogar bei 417 Schülerinnen und Schülern.

Für alle heimatlos gewordenen Menschen wurde nicht nur dringend Wohnraum benötigt, es ging vor allem auch um die Schaffung neuer Arbeitsplätze für die Flüchtlinge und die Einheimischen.

Nestlé-Werk 1958Ein großer Arbeitgeber war zunächst das Nestlé-Werk in Kappeln, dessen Belegschaft noch im August 1943 zu dreißig Prozent aus Zwangsarbeitern bestanden hatte.

Aber es entstanden auch einige neue Unternehmen, die zum Teil selbst von Flüchtlingen aufgebaut wurden, wie die Maschinenfabrik Stehr und die Fisch- und Marinadenfabrik Pagel & Kohn, die ihre Anfänge inmitten des großen Flüchtlingslagers in Ellenberg hatte, in einer Baracke ohne Dach, Fenster und Türen.

Zum größten Arbeitgeber dieser Zeit stieg aber ein anderer Betrieb auf, nämlich das

Bekleidungswerk Liening Kappeln/Schlei

Die Textilfabrik in unmittelbarer Nähe der Nestlé lag nur wenige hundert Meter von meiner großelterlichen Wohnung entfernt, und so durfte ich mich irgendwann zum allerersten Mal in meinem kleinen Leben ganz allein auf dem Weg machen, um bei Liening meine Mutter von der Arbeit abzuholen.

Ich bin dort einige Male gewesen, in der Fabrik und auch in der Kantine. Es war sehr beeindruckend, die Frauen waren fleißig bei der Arbeit, wirkten aber trotzdem entspannt und waren sehr freundlich. Das Essen in der Kantine hatte es mir besonders angetan, hauptsächlich wegen der ungewohnten Umgebung, aber es war wohl auch sehr schmack- und nahrhaft. Einmal gab es Eis, das hatte ich zuvor noch nie gegessen – welch eine kulinarische Offenbarung! Auch Herrn Liening selbst bin ich begegnet, besser gesagt: er hat mich mal bei einem meiner Besuche auf den Arm genommen. Die Frauen haben gestrahlt, ich sicher auch …

Kappeln - Bekleidungswerk Liening 1957Allzu viele Berichte über den Unternehmer und die Textilfabrik Liening gibt es nicht. Statt ihm wie Wilhelm Seehusen, Jacob Moser, Peter Kruse, Emanuel Lorentzen und Ludwig Hinrichsen vielleicht sogar die Ehrenbürgerwürde zu verleihen, wurde er von der Stadt Kappeln weitgehend vergessen.

15 Jahre nach dem vielversprechenden Kappeln - Werksgelände 1966Beginn 1945 ging das Unternehmen in Konkurs und wurde im November 1960 vom neuen „Textilkönig“ Alfons Müller aus Wipperfürth geschluckt.

Die Alfons Müller-Wipperfürth AG übernahm die Forderungen der Banken gegen die Bekleidungswerk Liening KG und erhielt dafür die Sicherheiten der Banken, die in Abtretung von Forderungen der Liening-KG bestanden.

Bernard Liening und seine Frau Klara verarmten. Als er 1977 starb, fand sich im SCHLEI-BOTEN nicht einmal eine Todesanzeige, geschweige denn ein Nachruf über den ehemals bedeutendsten Nachkriegsunternehmer der Stadt Kappeln und wohl auch des ganzen Landes Schleswig-Holstein.

Immerhin wurde im Loitmarker Gewerbegebiet auf der Schwansener Schleiseite, fast gegenüber dem ehemaligen Werk, 1983 eine Straße nach ihm benannt. Schön wäre es, wenn heute dort angesiedelte Unternehmen wie SKY oder Dänisches Bettenlager auch seinen Namen richtig schreiben würden. Der Mann hieß nicht „Bernhard“, sondern

Bernard Liening

Bernard Liening

Geboren 1907 in Schneidemühl im damaligen Posen, war er bereits in den dreißiger Jahren selbständiger Konfektionär in Berlin. Gegen Ende des zweiten Weltkriegs hatte er wegen der zunehmenden Luftangriffe auf die Hauptstadt seinen Betrieb nach Polen ausgelagert. In seinem letzten Fronturlaub als Gefreiter schlug er die Großdeutschland-Karte in Knaurs Weltatlas auf, tippte mit dem Finger auf Kappeln und sagte zu seiner Frau Klara: „Da treffen wir uns, wenn es schief geht“.
Bernard Liening - Lazarett 1945
Und es ging schief. Aus dem Kriegslazarett entlassen, flüchtete er nach Kappeln, wo er 1945 zu Fuß mit dem Wanderstock ankam und sofort daran ging, sich eine neue Existenz in seinem Fach aufzubauen. Dank Knaurs Weltatlas in ihrem spärlichen Fluchtgepäck fand auch Klara Liening den Weg zum ausgemachten Treffpunkt und damit zurück zu ihrem Mann.

Mit einer geliehenen Nähmaschine begannen Liening und drei Flüchtlingsfrauen am 24. August 1945, gut 100 Tage nach der Kapitulation Deutschlands, mit der Produktion von Mänteln und Kleidern aus Liening - Neuanfang 1945Wolldecken und Fallschirmseide in Räumen, die er von Kappelns Bürgermeister erhalten hatte.

Auf der Suche nach aufbewahrten Stoffen klapperte er persönlich die Kappelner Häuser ab, außerdem hatte er noch einen Waggon voller Futterstoffe aus dem Osten gerettet, den er nach Kappeln transportieren ließ.

Wegen der enormen Nachfrage musste der Betrieb schnell um drei zusätzliche Maschinen erweitert werden, die ihm Kappelner Frauen gegen Leihgebühr zur Verfügung stellten. Gleichzeitig wurde das Personal auf ein Dutzend Näherinnen aufgestockt, verteilt auf mehrere Adressen in der Stadt.

Es wurden Kleider und Mäntel konfektioniert und aus Stoffabfällen Puppenkleider genäht. Schneller als erwartet ging es voran. Immer mehr Flüchtlinge meldeten sich zur Arbeit, weitere Nähmaschinen wurden geliehen, Improvisation half über die vielen Schwierigkeiten hinweg, und nach drei Monaten war die Belegschaft bereits auf 200 Arbeitskräfte angewachsen.

Liening - Werksgelände ab 1946Entscheidend für die weitere Entwicklung war der Umzug in neue Räumlichkeiten, in welche die auf die Stadt verstreuten Arbeitsstätten und Läger zusammengezogen wurden.Liening - Werksgelände ab 1946

1936/37 hatte die Getreide AG auf beiden Seiten der unteren Königsberger Straße mit staatlicher Beihilfe zwei große Schuppen zur Vorsorgelagerung von Getreide errichtet. Liening übernahm die beiden Gebäude, von denen eines der Marine von 1940 bis 1945 als Bekleidungsdepot gedient hatte, samt Inventar und ließ in den zweistöckigen Hallen Werkstatträume, Büros, Vorführ- und Verkaufsräume sowie ein großes Stofflager bauen. Am 1. März 1946 nahmen das neue Werk mit nun bereits über 300 Menschen, davon 90 Prozent Flüchtlingsfrauen, überwiegend aus Ostpreußen und Pommern, den Betrieb auf, in dem statt mit alten Leihmaschinen jetzt mit modernen Schnellnähern und Spezialmaschinen produziert wurde.

Liening - Chicago Fair 1950Die Nachfrage nahm stetig zu, unter anderem auch durch die Teilnahme an allen wichtigen Textil-Messen und -Ausstellungen, vertreten durch Klara Liening.

Sogar bei der Internationalen Liening - Messestand 1950August-Messe in Chicago 1950 beteilige sich das Bekleidungswerk Liening unter ihrer Leitung mit einer Musterausstellung, auf der schon bald erste größere Bestellungen für den amerikanischen Markt verbucht werden konnten.

Mit Liening wurde die wirtschaftliche Position Kappelns gefestigt, für die Stadt war das Lieningwerk von enormer Bedeutung. Liening war das Paradebeispiel eines Flüchtlingsbetriebs.

Im Herbst 1946 war es bereits das größte Unternehmen seiner Branche in der Britischen Zone und 1949 sogar im gesamten Bundesgebiet. Damals bestand die Belegschaft aus bis zu 900 Liening - Prokurist HemmerMenschen, und durch Liening gehörte Liening - „Sie trägt Lie“Kappeln 1950 zu den den westdeutschen Städten mit der niedrigsten Arbeitslosenquote und war einer der größten Steuerzahler des Landes Schleswig-Holstein.

Dabei wurden für den Aufbau des Werkes keinerlei öffentliche Mittel in Anspruch genommen. Selbst die schwierigen finanziellen Probleme insbesondere nach der Währungsreform 1948 konnten – unterstützt durch kurzfristige Bankkredite – aus eigener Kraft gelöst werden.

Arbeitsleben

Liening - EntwürfeBernard Liening zeichnete und entwarf alle Modelle selbst. Entscheidend für den Erfolg einer Kollektion war für ihn die „modische Linie“, die er für jeden Mantel persönlichLiening - Modische Linie festlegte.

In der Modellzuschneiderei wurden nach seinen Entwürfen und Weisungen die Modelle reingezeichnet, zugeschnitten und von bewährten Musternäherinnen erste Probestücke hergestellt. Nach entsprechenden Korrekturen wurden dann die für die Serienfertigung erforderlichen Schnittmodelle für jede Größe angefertigt.

Die Serienfertigung wurde nach dem Refa-System durchrationalisiert und auf ein Fließbandsystem mit je 60 bis 80 Frauen in neun Arbeitsreihen umgestellt.

Liening - ArbeitsreihenLiening - ArbeitsreihenLiening - Arbeitsreihen

Der Fertigungsprozess eines Mantels umfasste 80 Arbeitsschritte. So hatte eine Näherin den ganzen Tag immer wieder nur eine einzige Naht zu nähen, Ärmel einzusetzen, (täglich 3000) Knopflöcher zu stechen oder Knöpfe anzunähen, alles mit Spezialmaschinen.
Liening ArbeitsteilungLiening ArbeitsteilungDie Konfektion wurde auf wenige Modelle modischer Damen- und Kindermäntel aus einem Dutzend Stoffen reduziert. Zweimal am Tag ging ein Waggon von dem direkt hinter dem Werksgebäude Königsberger StrLiening - Abtransportaße 8 verlaufenden Bahngleis auf die Reise, vollgepackt mit Mänteln, bis zu tausend Stück täglich, eine Viertelmillion jährlich.

„Wohl dosiert“ wurde hin und wieder Schallplattenmusik über Lautsprecher in die Arbeitssäle übertragen – vormittags ein bisschen seriöser, nachmittags immer heiterer und flotter, weil „Liening - Mechanikerwerkstattdabei viel schneller und mit mehr Liebe gearbeitet“ würde, wie Liening erkannt zu haben glaubte.

Neben den eigentlichen Arbeitssälen gab es eine eigene Mechanikerwerkstatt, in der zur Vermeidung von Produktionsausfällen Maschinenstörungen und Schäden in kürzester Zeit beseitigt wurden, und eine Betriebstischlerei, in welcher das Inventar wie Arbeitstische, Bügelgeräte usw. angefertigt wurden.

Einen besonderen Stellenwert hatte die Lehrlingsausbildung. Die meisten Beschäftigten in den Anfangsjahren des Werks waren berufsfremd und mussten um- und angelernt werden. In der eigenen Lehrlingswerkstatt wurde unter Leitung bewährter Liening - LehrlingsausbildungFachkräfte des Betriebes – ergänzt durch auswärtige Lehrer – der Nachwuchs ausgebildet, aber auch berufsfremde Arbeitskräfte für die Bekleidungsindustrie umgeschult und anschließend ins Werk übernommen.

Die Schneiderinnen-Ausbildung dauerte eineinhalb Jahre. 1955 verdienten die Lehrlinge im ersten Lehrjahr 25 Mark, im zweiten 40. Nach der Lehre gab es dann 92 Pfennig Stundenlohn. Die Frauen des 52-köpfigen Lehrlingsjahrgangs 1955, der im April begann und am 30. September 1956 endete, hat sich seit 1994 regelmäßig in Liening - Lehrlingswerkstatt 1950Kappeln getroffen und beim Klönschnack bei Kaffee und Kuchen alte Erinnerungen aufgefrischt. Sie alle denken gern an die damalige Zeit und ihren fürsorglichen Lehrherrn zurück.

Was den ungewöhnlichen Unternehmer Bernard Liening ganz besonders auszeichnete, war seine damals tatsächlich einzigartige großzügige soziale Fürsorge gegenüber der Belegschaft.

So gab es bereits in den Anfangsjahren einen Betriebsrat, der planend und beratend in allen Fragen mitwirkte, die das Werk und seine Belegschaft betrafen. Für die meisten Frauen an den Maschinen war das allerdings unbedeutend, ihnen reichte es, wenn „der Alte“ es richtete.

Liening - KantineEine große Liening - Bunter AbendBesonder- heit für die damalige Zeit war waren neben der Einrichtung einer eigenen Kantine auch die durch den eigens gegründeten „Verein für Sozialbetreuung des Lieningwerks e. V.“ organisierten bunten Unterhaltungsabende mit Theater- und Kabarettvorstellungen.

Liening - Bunter AbendUnd die mit der gesamten Belegschaft gefeierten Betriebsfeste waren Höhepunkte im gesellschaftlichen und kulturellen Leben ganz Kappelns.

Für Liening - Motorboot „Falke“Betriebs- ausflüge schaffte der Verein sogar ein eigenes Motorboot namens „Falke“ an, mit welchem bis zu fünfzig Angestellte im Sommer auch zum Baden an die Ostsee fahren konnten.

Daneben wurde der Betriebssport groß geschrieben: Liening selbst war leidenschaftlicher Boxer, der es vor versammelter Belegschaft gegen jedem Herausforderer aufnahm, auch wenn er selbst meistens verlor.Liening - Boxer

Durch all diese Maßnahmen und natürlich auch durch Einrichtungen wie Gratifikationen, bezahlten Mehrurlaub und Unterstützung in Notfällen entstand ein großer Liening - Anreise aus AngelnZusammenhalt unter der überwiegend weiblichen Arbeiterschaft, der selbst ernannten „Liening-Familie“.

Der Aufbau des Betriebes war nicht nur eine großartige kaufmännische und technische Leistung – hier diente dank der einzigartigen sozialen Betreuung durch Bernard Liening die Arbeit nach dem Krieg auch als Mittel zum Zweck, nämlich den vielen heimat- und hoffnungslosen Menschen den Glauben an das Leben wiederzugeben.

Mit dieser Grundhaltung beteiligte sich Liening auch an der Behebung der Wohnungsnot in Kappeln, „um die Flüchtlinge aus den Baracken herauszuholen“.
Liening - Wohnungsbau
Mit Hilfe einer Baugenossenschaft errichtete er ab 1949 Häuser für Betriebsangehörige mit Familien, jedes Haus hatte 600 m² Gartenland und zwei Wohnungen, in denen meist dreiköpfige Familien untergebracht wurden.
Liening - Wohnungsbau
Für alleinstehende weibliche Betriebsangehörige (damals 35 Prozent der beschäftigten Frauen) wurden 1950 vier Ledigenheime gebaut, mit Einzelwohnungen mit je 17 m² Wohn- und Schlafraum, einer 5 m² großen Kochnische mit elektrischem Herd, eingebauten Schränken, Bad und WC für je zwei Wohnungen, Zentralheizung, Abstellraum für Fahrräder und Trockenraum.

Kappeln - Rathaus ab 19621954 wurde schließlich auch noch ein Lehrlingswohnheim errichtet, in dem 50 der rund 170 Lehrlinge untergebracht werden konnten.

Ab 1962 diente das Gebäude der Stadt Kappeln als Rathaus.

1988 wurde es zum Hotel ausgebaut und der Schriftzug „1954“ enfernt.


Das Ende

Tragischerweise läutete das Einstehen und die Fürsorge für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schließlich auch das Ende Lienings ein. 1958 wandelte er die GmbH in eine Liening - Annonce 1960Kommanditgesellschaft um, da die Firma, bedingt durch das geringe Eigenkapital, ständig finanzielle Schwierigkeiten zu bewältigen hatte.

Gleichzeitig verschlechterte sich aber die Wirtschaftlichkeit, nicht zuletzt auch durch Managementfehler. So wurde die Beschäftigungszahl nicht – wie inzwischen allgemein üblich – saisonbedingt angepasst, sondern der sehr hohe Personalstand über das ganze Jahr gehalten, weil Liening es nicht übers Herz brachte, Entlassungen auszusprechen.

Es wurde „auf Lager“ produziert. Die „modische Linie“, die für ihn einmal der Erfolgsgarant jeder Kollektion gewesen war, stellte er zugunsten seiner Beschäftigten hintan. Vielleicht hat er dabei sogar geahnt, dass es wieder einmal schief geht.

Alles, was im nächsten Jahr nicht mehr der Mode entsprach, konnte nur noch mit Verlust abgesetzt werden. Das Ende seines 15. Betriebsjahrs 1960 war auch das Ende des Bekleidungswerks Liening.

Am 11. November 1960 wurde beim Amtsgericht Kappeln ein Vergleichsverfahren beantragt, am 22. November wurde das Übernahmeangebot der Alfons Müller-Wipperfürth AG angenommen. Müller stellte binnen kürzester Zeit das Produktionsprogramm des Werkes mit seinen 800 Beschäftigten auf Popelinemäntel und Knabenbekleidung um.

Auf die Insolvenz Müllers folgte Steilmann, bis 1994 die Bekleidungsproduktion in Kappeln endgültig eingestellt wurde.

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„Wir wollen nicht nur zusammenarbeiten,
wir wollen auch zusammen glücklich sein!“

war Bernard Lienings Motto.
Das Glück aber wollte etwas Anderes.


Bildergalerie: Bekleidungswerk Liening 1950


Bildergalerie: Werksgelände heute

Impressionen von 2009 und 2011
mit freundllicher Genehmigung von Eckhard Schmidt – Kappeln

Weitere Fotos und die zugehörigen Bildbeschreibungen finden sich bei Eckhard Schmidt unter:

Fotos vom 28.07.2009 | Fotos vom 10.01.2011 | Fotos vom 25.01.2011


Links und Literatur

Neuer Unternehmer – Soldat, Flüchtling und Schneider
DER SPIEGEL 20/1948 vom 15.05.1948 | PDF

Flüchtlingsbetrieb – Bei Schallplattenmusik
DER SPIEGEL 35/1950 vom 31.08.1950 | PDF

Achthundertmal Ursula – Besuch beim Textil-König in Kappeln an der Schlei
Hamburger Abendblatt Nr. 142 vom 23.06.1952, Seite 10 (kostenpflichtig)
Google-Schnellansicht

Flüchtlinge in Schleswig-Holstein
Virtuelles Museum – Dänisch-deutsche Geschichte der Moderne im Internet

Berthold Hamer: Biografien der Landschaft Angeln
872 Seiten, 59,95 €, ISBN 978-3898763394
Husum Verlag, 2007
Gedenkblätter: 100. Geburtstag Bernard Liening

Kappeln Sechshundertfünfzig
656 Seiten, 10 €, ISBN 978-3779369189
Heimatverein der Landschaft Angeln e. V., 2007

Historischer Atlas Schleswig-Holstein seit 1945
216 Seiten, 35 €, ISBN 978-3529024450
Wachholtz Verlag, 1999

Die Bevölkerung der Gemeinden in Schleswig-Holstein 1867-1970
314 Seiten, 20 DM
Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein, 1972

Nostalgischer Zeitsprung in die goldenen 50er Jahre
SCHLEI-BOTE vom 23.05.2005

5 Jahre Bekleidungswerk Liening Kappeln/Schlei
40 Seiten, Firmenschrift
Rollmann Hamburg, 1950


Kommentare

Erstmal herzlichen Dank an Tiko für den netten Kommentar:

»Ein ganz toller Artikel, Achim.
Ich kann mich auch noch gut an die Kantine erinnern, in die man von der Königsberger Straße aus über eine kleine Brücke gelangte. Anfang der 60er Jahre arbeitete meine Schwester dort und ich besuchte sie gelegentlich nach der Schule in ihrer Mittagspause, um eine Süßigkeit aus der Kantine „abzustauben“. Das muss aber bereits die Müller-Wipperfürth-Ära gewesen sein, denn es wurde schon im Akkord gearbeitet. Ich erinnere mich, dass meine Schwester täglich kleine bunte Zettel zu Hause sortierte, die sie den einzelnen bearbeiteten Kleidungsstücken entnehmen musste, um täglich die geschaffte Arbeitsleistung zu dokumentieren.«

Besonders gefreut habe ich mich heute auch über eine andere Rückmeldung. Mein langjähriger früherer Kieler Arbeitskollege Dirk schreibt mir:

»Das war bestimmt ein gutes Stück Arbeit, die „ganze Geschichte“ so ausführlich und doch so knapp wie nötig hinzukriegen! Entstanden ist eine sehr beeindruckende Dokumentation – mit persönlichen Erinnerungen und sehr vielen Bildern – über eine ganz besondere Kappelner Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit. Das war schon ein legendärer Unternehmer mit einem sozialem Engagement, wie er in der heutigen Zeit kaum mehr zu finden ist. Tragisch aber sein Ende und bezeichnend dann das Vergessen der einmaligen Leistung der Wiederaufbauzeit.«

Auch meiner ehemaligen Klassenkameradin Birgit hat der Beitrag gefallen:

… besonders der Bericht über die Firma Liening hat mich interessiert. Es waren auch aus Süderbrarup viele Frauen, die mit uns im Zug fuhren, die dort arbeiteten. Und die Flüchtlingssituation haben wir ebenfalls sehr direkt miterlebt. Ich kann mich an fünf Familien erinnern, die eine Zeitlang bei uns untergebracht waren – jeweils in einem Zimmer oder auf dem „Dachboden“. Die eine Familie ist sogar bis ca. 1957, als ich eingeschult wurde, geblieben.

Karin Hoffmann meint:

Da sieht man einmal wieder wo man landet, wenn man Gutes tut. Traurig, traurig, das die Familie Lienig so enden musste. Ich verstehe nur nicht, wie das so einfach passieren konnte und keiner half.

Ein anderer (mir persönlich bekannter) Leser ist etwas skeptisch:

Deinen Artikel habe ich interessiert gelesen. Hat mir sehr gut gefallen. Mann kann gar nicht glauben, dass Liening nur Gutes vollbracht hat und dann vergessen wurde. Möglicherweise müssen da noch einige Sachen ausgegraben werden.


2 Kommentare

  1. Karin Hoffmann

    Da sieht man einmal wieder wo man landet, wenn man Gutes tut.
    Traurig, traurig, das die Familie Lienig so enden musste.
    Ich verstehe nur nicht, wie das so einfach passieren konnte und keiner half.

  2. Dieter Tikovsky

    Ein ganz toller Artikel, Achim.
    Ich kann mich auch noch gut an die Kantine erinnern, in die man von der Königsberger Straße aus über eine kleine Brücke gelangte. Anfang der 60er Jahre arbeitete meine Schwester dort und ich besuchte sie gelegentlich nach der Schule in ihrer Mittagspause, um eine Süßigkeit aus der Kantine „abzustauben“. Das muss aber bereits die Müller-Wipperfürth-Ära gewesen sein, denn es wurde schon im Akkord gearbeitet. Ich erinnere mich, dass meine Schwester täglich kleine bunte Zettel zu Hause sortierte, die sie den einzelnen bearbeiteten Kleidungsstücken entnehmen musste, um täglich die geschaffte Arbeitsleistung zu dokumentieren.

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