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Dez 03 2020

Nicolaus war beim Friseur

Eigentlich habe ich meine Blog-Aktivitäten für dieses Jahr bereits eingestellt und entschieden, selbst zur Schließung der „Palette“ und zum Menschenschädel-Fund im Jöns-Hof keinen aktuellen Beitrag mehr zu verfassen.

Zu einem dritten Thema, das ich seit kurzem verfolge, sehe ich mich nun aber entgegen meinen Vorsätzen aus Aktualitätsgründen „genötigt“, doch noch kurz ein paar Zeilen zu schreiben.

Es geht um den legendären New Yorker Friseurladen

Astor Place Hairstylists,

der nach mehr als 70 Jahren infolge der Corona-Pandemie (beinahe wink ) schließen musste.

Unser alter Schulkamerad und sporadisch „Mitreisender“ Nicolaus Schmidt hat über den Laden bereits 2013 ein – beim Verlag inzwischen vergriffenes – Fotobuch veröffentlicht.

Astor Place - Buchtitel  (2013)Astor Place · Broadway · New York.
Ein Universum der Friseure

Ganz New York komprimiert in einem Kellerraum, dies ist der Astor Place Barbershop. Hier arbeiten mehr als 50 Friseure, eingewandert aus allen Ecken der Welt ein pulsierendes Leben inmitten von Spiegeln, Friseursesseln aus allen Jahrzehnten, Kellerrohren und Friseurarbeitsplätzen, die wie Kunstinstallationen erscheinen.

1947 von einer sizilianischen Familie gegründet, gehört der Laden heute zu den Geschäften in Manhattan, die durch hohe Mieten zunehmend verdrängt werden. Nicolaus Schmidt zeigt diesen unvergleichlichen Ort hautnah und filmgleich über 155 Fotoseiten. Im Textteil kommt der Starfriseur Udo Walz zu Wort, der sich von dem Projekt begeistern ließ.

Kürzlich überschlugen sich die Ereignisse zu diesem Thema:

Am 22. November brachte DER TAGESSPIEGEL einen ganzseitigen Nachruf auf den legendären Barbershop – mit Erinnerungen und Fotos von Nicolaus Schmidt.

Als ich Astor Place im Frühjahr 2012 das erste Mal betrat, wusste ich, dass ich mein ursprüngliches Projekt vergessen konnte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Friseure in Berlin und New York zu porträtieren. Doch als ich die Treppe herunterkam, tat sich mir in dem Keller im East Village eine ganze Welt auf. Ein Laden, groß wie ein kleines Kaufhaus, die Wände mit Autogrammkarten tapeziert, in den Hinterzimmern konnte man Karaoke singen, der Chef spielte im Fitnessraum Klavier. Womit hätte ich diesen Laden vergleichen sollen?

Vier Wochen habe ich dort täglich fotografiert. Fasziniert hat mich vor allem die Vielfalt. Die der Frisuren – sie machen hier irre Irokesen und brave Büroschnitte –, aber vor allem die der Friseure. Mehr als fünf Dutzend Menschen waren damals angestellt: Muslime und Juden, Osteuropäer, Italiener, Lateinamerikaner arbeiteten kollegial nebeneinander.

Angefangen hatte alles mit den Gebrüdern Vezza, Auswanderern aus Sizilien, die 1945 oder 1947, so ganz klar ist das nicht, einen Friseursalon in Manhattan eröffneten. In den 70ern wurde er stadtbekannt, weil es Schnitte zu billigen Festpreisen gab. Die Leute standen Schlange um den Block. Berühmtheiten wie Susan Sarandon oder Spike Lee ließen sich hier die Haare machen. Und zeitweise waren die Friseure selbst Stars. In den 80er Jahren schnitten sie nebenher in der legendären Diskothek Studio 54.

Ende der 90er Jahre dann stiegen die Mieten so stark, dass John und Paul, die Enkel eines der Gründer, das ursprüngliche Geschäft im Hochparterre aufgeben und sich auf denKeller beschränken mussten.

Mit einigen Angestellten bin ich bis heute in Kontakt. Daisy Jessica Latorre schrieb mir, dass der Laden jetzt schließen muss. Ihr Kollege Valentino, der seit mehr als 30 Jahren dort tätig ist, habe Tränen in den Augen gehabt. Auch mir blieb die Luft weg. Das ist, als würde in Berlin das SO36 oder Konnopke dichtmachen. Ach was, viel größer.

Corona hat dem Laden das Genick gebrochen. Seit Juni ist der Lockdown zwar vorbei, doch Jessica sagt, dass bis heute kaum jemand kommt. Viele Stammkunden hätten Angst, Laufkundschaft gebe es momentan gar nicht. Am 25. November nun wird das Geschäft geschlossen.

Manhattan verliert damit wieder ein Stück Originalität. Astor Place war eines der wenigen menschlichen Ökosysteme, das sich noch gegen die Gentrifizierung stemmte, ein Ort, an dem das bunte migrantische New York noch lebendig war. Nun wird er verschwinden.

Am 23. November dann plötzlich die Nachricht von der Rettung des Friseurladens durch eine Gruppe wohlhabender New Yorker.

Dazu – und das ist letztlich der Auslöser, dieses Thema doch noch schnell in diesem Jahr zu erwähnen – gibt es morgen Abend einen Beitrag in den Tagesthemen.

Das ARD-Studio New York zeigt dazu Fotos aus dem Buch von Nicolaus Schmidt.

TV-Tipp
ARD-Tagesthemen
Sendung: Freitag, 4. Dezember 2020, 21:45 Uhr

Ein Satz mit „x“: Das war wohl nix!

Dafür gab es zwei Tage später einen Radio-Beitrag, den ihr euch auf

Deutschlandfunk Kultur

direkt anhören könnt.

Nachtrag vom 5. Januar 2021

Heute um 12:50 Uhr hat das

ARTE Journal

einen Beitrag zur Rettung von New Yorks Kultfriseursalon Astor Place Hairstylists gebracht.

Dafür besuchte ein Fernsehteam Nicolaus Schmidt in seinem Atelier.

5 Kommentare

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  1. admin

    Nach meinen Informationen gibt es heute im „Deutschlandfunk Kultur“ ab 23:05 Uhr einen Beitrag zu dem Thema. Das ist bestimmt nicht unser aller Haussender, aber immer noch besser als auf Radio Eriwan. ;)

  2. Katr!n Wummel

    Ja, wirklich schade. Dass Zuverlässigkeit nicht zu den Stärken der ARD gehört, ist mein persönlicher lang jähriger Eindruck von Konsumenten- und Kundenseite aus. Ich versuche, mich nicht mehr darüber zu ärgern.
    Aber wir haben ja hier bei SZR schon ein paar Astor-"Schmankerln" zu sehen bekommen :-)

  3. Nicolaus Schmidt

    Tut mir leid, wenn ihr vergeblich auf den angekündigten Beitrag gewartet habt.

    1. Das ARD-Team war wirklich am Mittwoch bei Astor Hair zu einem Dreh (Rückmeldung aus dem Salon).
    2. Ich vermute, dass der Beitrag aus New York dem tagesaktuellen Bericht über das "Konzert" von Igor Levit im Dannenröderforst zum Opfer gefallen ist.

    3. Bei manchen VertreterInnen der Qualitätsmedien (nicht meine einzige Erfahrung, leider) könnte man vom Glauben abfallen:
    a. „Ich bin ja sooo froh, Sie zu erreichen…“ (Telefon),
    b. E-Mail: „dringend!!“,
    c. dann: Download der von mir schnell zusammengesuchten und hochgeladenen Dateien,
    d. dann: nix –
    e. noch nicht mal ein „Danke“….

    Vielleicht wird der Beitrag ja zu einem späteren Zeitpunkt gesendet.

    Gute Nacht und
    herzliche Grüße

    Nicolaus Schmidt

    1. admin

      Zu 2.: Ich vermute eher, dass das (gestrige) „sächsisch-anhaltinische Obscurum (Erschreckliche, scheuderliche und greuliche Geschichten sowie allerlei andere Merkwürdigkeiten …)“ dafür verantwortlich war. :evil:

  4. Nicolaus Schmidt

    Danke Achim!
    Ach ja, das Buch (gern auch mit Widmung) gibt es noch bei mir,
    falls ihr noch ein Weihnachtsgeschenk* sucht…

    Grüße an euch alle
    Nicolaus

    * Es schreibt der Kaufmannssohn.

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