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Aug 13 2018

Die Lagerschule Ellenberg

Bericht
über die Lagerschule „Ellenberg“
Kreis Eckernförde
von Martin Schmidt, Lehrer, 1950

Flüchtlingslager „Ellenberg“

Als 1945 der große Zusammenbruch kam, waren Hunderttausende deutscher Brüder und Schwestern aus dem Osten von Haus und Hof, Heim und Herd vertrieben. Der Westen mußte diese armen Vertriebenen aufnehmen. So kamen auch große Scharen der Flüchtlinge nach Schleswig-Holstein. Wohin nun mit dieser großen Menge Heimatloser? Städte und Dörfer alleine reichten nicht aus, solche Massen unterzubringen, so griff die Landesregierung zu allem, was zur Behebung der Not geeignet war. Es befanden sich ja in ihrem Bereich Kasernen und manche Läger des Heeres.

In „Ellenberg“ bei Kappeln war auch so ein Lager, von dem obige Aufnahme einen Ausschnitt darstellt. Es war ein Lager des ehemaligen Arbeitsdienstes, diente dann später der Marine zu Ausbildungszwecken. Nach dem Zusammenbruch zogen für kurze Zeit die Engländer in das Lager ein und dann folgten Polen. Nachdem die Polen umgesiedelt waren, diente das Lager zur Aufnahme von deutschen Flüchtlingen. Im Laufe der Zeit wurden hier etwa 800 Heimatlose untergebracht. Noch 1948 war es so, daß z.Tl. mehrere Familien einen Raum teilen mußten. Eine große Zahl der Baracken war unbewohnbar, der andere Teil in trostlosem Zustand. Furchtbare Enge war die Folge. Wilde Ehen und sonstige moralische Auswüchse blieben nicht aus, Zank und Streitereien waren die Tagesordnung. Alles das sahen die Kinder mit an, die schon auf der Flucht viel gesehen hatten, was sonst dem kindlichen Geist, Auge und Ohr verborgen bleibt. Sie waren ihrem Alter weit voraus – frühreif.

Wie waren nun für diese Schar unglücklicher Menschen die Schulverhältnisse?

Anfangs war im Lager selbst keine Schule. Einige Eltern, die noch Interesse daran hatten, daß ihre Kinder etwas lernten, schickten ihre Kinder nach Kappeln oder nach Loitmark zur Schule. Das war natürlich nur eine kleine Zahl, die Mehrheit bummelte. Bei schlechtem Wetter war auch das unmöglich, fehlte es doch allen Familien an Schuhzeug and sonstiger Kleidung. Solche Verhältnisse durften kein Dauerzustand bleiben.

Die Lagerschule

In der abgebildeten Baracke wurde dann im Oktober 1946 für die Kinder des Lagers eine eigene Schule eröffnet. Ein Schulhelfer wurde mit ihrer Leitung beauftragt. Die erste Schulzeit bis Weihnachten muß geradezu trostlos gewesen sein. Die Baracke hatte anfangs nur 3 Wände, Inventar war nicht vorbanden, die Fenster herausgebrochen, das Dach undicht. Nun hat der Schulhelfer gearbeitet, d.h. organisiert, erbettelt, besorgt und genommen. Er beschaffte die 4. Wand, nagelte aus Brettern Tische und Bänke zusammen und begann nach Weihnachten den Unterricht. Für ihn selbst war keine Unterkunft vorhanden, er schlief deshalb etwa 6 Wochen hindurch im Lagerbüro auf dem Tisch. Keiner kümmerte sich um ihn, da alle mit sich selbst zu tun hatten! Er wäre wohl fast umgekommen, erfroren, verhungert, wenn nicht ab und zu mitleidige Seelen ihre eigene Not mit ihm geteilt hätten. Schließlich gelang es ihm, soviel Bretter heranzuschaffen, daß er sich an einen Ende der Schulbaracke einen eigenen Schlafraum abkleiden konnte. 12×8 qm dienten als Klassenraum. 164 Kinder waren zu betreuen und die alleine von nur einem Schulhelfer.

Heizung – die Lagerverwaltung gab nur sehr sehr wenig – wurde dadurch beschafft, daß jedes der Kinder am Tage ein Stück Holz oder Torf mitbrachte. Der Raum wurde dadurch im günstigsten Falle auf 3° erwärmt. Unterricht ließ sich dabei nicht erteilen, es wurden nur Aufgaben verteilt, am nächsten Tage nachgesehen und die Kinder mit neuen Aufgaben versorgt und entlassen. Unter kümmerlichen Verhältnissen wurden die Schulaufgaben im Barackenraum der Eltern erledigt. Werfen wir einen Blick in einen solchen Raum.

Barackenraum einer 6köpfigen Familie

Dieser Raum – 12 qm – dient einer 6köpfigen Familie als Wohn-, Schlaf-, Küchen- und Arbeitsraum zugleich. Mit einem Taschenmesser und Hobel als einzigstem Werkzeug fertigte der Vater – ein arbeitsloser Melker – die notwendigsten Hausratsgegenstände (Hocker, Bänke, Tische, Bett und Schrank). Während die Mutter auf dem Tisch die wenigen Teller und Tassen abwäscht und spült, müssen die Kinder dort ihre Schularbeiten erledigen. Auf einem Hocker sitzend, das Heft auf den Knien, ist die kleine Schwester in ihre Arbeit vertieft.

So lief der Schulbetrieb hier bis Ostern 1947. Im Januar 1947 wurde mir die Lehrerstelle an der Lagerschule übertragen. Eine Wohnung war nicht vorhanden. Man versprach mir, für eine Unterkunft zu sorgen. Nach 4 Wochen war es so weit. Wie sah aber nun dieses Obdach aus? Für Menschen einfach unwürdig. Es war wohl – ein großer Vorteil – eine einzelne Baracke, sie hatte 3 Räume, Zementfußboden. Die Fenster aber waren mit Rahmen gestohlen, es regnete überall durch. Dreck, nicht Schmutz, lag in allen Räumen. Eine ganze Fuhre voll mußte erst hinausgeschafft werden. Ich konnte es nicht verantworten, meiner Familie und meine Gesundheit aufs Spiel zu setzen, hatten wir doch jeder nur das Zeug, das er auf dem Leibe trug, gerettet. Für die Nacht kam für jeden noch eine Schlafdecke hinzu. Wir waren wohl die ärmsten Menschen im Lager, wir hatten alles verloren, kein Bett, nichts besaßen wir. Wären wir sofort zugezogen, wir wären gewiß erfroren. Am 1. April 1947 zogen wir hier zu. Am 1. Ostertage riß der Sturm die halbe Giebelwand um, ich richtete sie wieder auf, doch blieb ein Riß von 20 cm. Am 29. April riß der Sturm den ganzen Giebel um. Bald stand das Wasser 5 cm hoch in den Räumen. Bei strömendem Regen wurde umgezogen.

Der Unterricht wurde von Ostern 1947 von 2 Lehrern erteilt. Da nur ein Klassenraum vorhanden war, wurde vor- und nachmittags unterrichtet. Jede Woche wurde gewechselt. Eine Qual waren die Unterrichtsnachmittage an heißen Tagen, trotz geöffneter Fenster und Türen stieg die Hitze im Klassenraum oft auf 35°. Reich fühlten wir ans schon, als uns für 180 Schüler 10 Brettertische und 20 Bänke zur Verfügung standen. Jedes Fleckchen im Raum war eng bestellt und Kinder wie auch Lehrer mußten über Tische und Bänke hinwegturnen, um an ihren Platz zu gelangen. Die dichtgedrängte Fülle im Raum veranschaulicht das nächste Bild.

Blick in den dichtgefüllten Klassenraum

Erschwerend für den Gang des Unterrichtes ist die Tatsache, daß Lehrern wie auch Schülern kein Lehr- und Lernbuch zur Verfügung steht. Es gibt kein Lese-, kein Rechenbuch, keinen Atlas, kein Schreibheft. Es ist eine Freude zu merken, daß trotz aller Mängel doch noch etwas erreicht wird.

Ostern 1948 kam der zweite Lehrer, Pfingsten der dritte Lehrer ins Lager. Nur einer fand in den Baracken Unterkunft, der andere wohnt außerhalb und hat alle Tage einen Weg von etwa 20 km.

Das Lager „Ellenberg“ ist ein reines Flüchtlingslager, seine Bewohner haben z.Tl. alles verloren. Nur wenige besitzen noch eine Uhr. Einen alten Wecker erhielt ich als Geschenk. Er geht ungenau und wird täglich nach dem Tuten der Nestlewerke oder nach dem Einlaufen der Kleinbahn gestellt. Damit der Unterricht einigermaßen pünktlich beginnen kann, läute ich jeden Morgen 1/2 Stunde vor Unterrichtsbeginn – es ist das Zeichen zum Aufstehen der Langschläfer – und zum Unterrichtsbeginn die Lagerglocke. Diese kleine Belastung hat sich gut bewährt.

Die Zahl der Arbeitslosen ist im Lager noch ziemlich hoch, obwohl eine große Menge der Bewohner in Kappeln in Arbeit steht. 2 Betriebe sind es besonders, die die Lagerbewohner mit Arbeit versorgen: das Bekleidungswerk Liening und die Nestlewerke. Im Lager selbst beschäftigt die Fischindustrie etwa 30-40 Frauen. Flüchtlingsfischer aus Hela, von der Kurischen Nehrung usw. fanden im Lager Unterkunft, sie versorgen die Industrie täglch mit frischen Fischen. In allen Baracken herrscht auch heute noch die allergrößte Not, die noch einmal das nächste Bild zum Ausdruck bringt. Auf Schemeln, Hockern, ausgedienten Milchkannen hocken die Schulkinder, um auf selbstgezimmerten Tischen oder Schränken ihre täglichen Schularbeiten anzufertigen. In den verhärmten Gesichtern der Mütter und Väter prägt sich die durchstandene und noch andauernde Not.

Blick in einen Küchenraum, 3½ qm

Im Sommer 1949 besuchten mich einige Herren der Notgemeinschaft aus Kiel. Sie besahen unsere Schulverhältnisse und erkundigten sich nach ev. Wünschen. Hilfe wurde versprochen, dann wurde es eine zeitlang still. Am 6. Januar 1950 kam dann nachträglich der Weihnachtsmann – ein großer Tag für unsere Schule. Eine Wandtafel, 1 Schrank, 1 Rechenmaschine, 2 Tische, 2 Stühle, Bälle, 2 Sprungständer, Bandmaß, Lineal, Zirkel, Winkelmesser, viele Hefte, Lese- und Rechenbücher und andere Sachen wurden uns geschenkt. Im Herbst 1950 ging dann auch der Wunsch nach neuen Schulbänken in Erfüllung. Es waren zwar keine neuen Bänke, sie waren aber noch gut erhalten. Wir ließen sie gründlich überholen und konnten damit den inzwischen abgeteilten 2. Klassenraum ausstatten.

Letzter Blick in den Klassenraum

Was ich bisher schilderte, ist nur ein kleiner Teil des tatsächlich Erlebten. Früher nahm ich an, daß solche Sachen nur in den Gehirnen von Schreibern schlechter Romane entspringen könnten. Heute nach 4 Jahren Lagerlebens weiß ich, daß ich solche Romane teilweise miterlebt habe.

Wenn ich nun zum Schluß noch ganz kurz die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleiche, so kann ich das mit einem Satze abtun:

Es ist schon viel besser geworden!

Wir hoffen, daß die Besserung weiter anhält, daß jeder Lagerbewohner seine feste Heimat findet und, so Gott es will, daß es seine alte Heimat ist.

Martin Schmidt, Lehrer.