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Jun 08 2020

Von Kiel nach Kappeln (4.1)

Von Kiel nach Kappeln

von Erich Thomsen

~ (4.1) Kappeln ~

Vater hatte seine Fühler wieder nach Kappeln ausgestreckt. Er kam mit der Botschaft, dass wir in Kappeln im Hinterhaus von der Buchhandlung Kock wohnen könnten. Oma und Opa entschlossen sich, auch mitzukommen. Ein Fuhrwerk hat die ganze Haushaltsauflösung von Kiel nach Kappeln gebracht.

Alle Personen lebten vorübergehend in dem kleinen Haus Schanze 4. Auf dem Dachboden wurden die Abseiten hergerichtet. Frau Ebel bekam eine größere Abseite, wo sie sich ein Lager auf Matratzen machte. Im einzigen großen Zimmer wurden sich die Betten geteilt. Die kleinen Abseiten dieses Zimmers wurden zu Kojen ausgebaut und unter diesen Schrägen konnten ein Erwachsener und ein Kind schlafen.

Vor dem Zimmer war ein Bodenraum. Unter der Schräge war eine Waschgelegenheit. Das Wasser musste von unten geholt werden. Das war auch der Vorraum, wo die Treppe war. Zur anderen Dachgiebelseite waren noch zwei kleinere Abseiten. Unten ging es von der Haustür links ins Wohnzimmer. Vorn Wohnzimmer ging ein kleines Zimmer ab und daneben war eine klitzekleine Küche mit einer Hexe, worauf nun alles gekocht werden musste, um alle satt zu kriegen.

Diese Enge des Wohnens war natürlich die Triebfeder dafür, sich nach Wohnraum umzusehen. Aber es war die Zeit der Flüchtlinge und Wohnraum knapp. Vater war von der Stadt Kappeln Wohnungsbeauftragter. Frau Ebel konnte im Haupthaus von Kocks Buchhandlung ganz oben unterm Dach ein Zimmer beziehen.

Es kam der 8. Mai 1945. Deutschland hatte kapituliert und die Engländer kamen als Besatzungsmacht nach Schleswig-Holstein und somit auch nach Kappeln. Für uns Kinder war es interessant. Die Soldaten waren nett und kinderfreundlich.

Für die Erwachsenen wurde eine Ausgangssperre ab 21 Uhr verhängt. Später gab es eine Verlängerung bis 22 Uhr. Manche „Spätheimkehrer“ wurden geschnappt und mussten mit zur Nestle-Villa, wo sie auf einem Strohlager in der Garage übernachteten.

Da die wirtschaftliche Lage in Kappeln besonders die Bäcker traf, wurde Getreide aus dem Silo beschlagnahmt und verteilt, so dass die Bevölkerung wieder Brot kaufen konnte. Die Lebensmittelrationierung auf Marken blieb noch bestehen.

Es gab nicht nur die vielen Flüchtlinge aus den Ostgebieten in Kappeln, sondern auch die vielen Soldaten der unterschiedlichen Wehrmachtseinheiten. Am Hafen lagen die Einheiten der Kriegsmarine. Im Hüholz Einheiten der Kraftfahrbereitschaft. Es mussten auch viele Verwundete versorgt und untergebracht werden. Als Junge hatte man natürlich mit diesen Sorgen nichts zu tun.

Die britische Militärdienststelle war in der Nestle-Villa, in der Roester Allee, untergebracht. Die Offiziersmesse in der Harmsen-Villa. Unsere Mutter war mit einer Frau Hinrichsen dort in der Küche beschäftigt, um die Offiziere zu bekochen. Es war für uns eine gute Zeit, da Mutter uns Essensreste mitbrachte. Die Engländer aßen nur dieses superweiße Weißbrot.

Mein Vater hat in dieser Zeit Radios repariert. Zwei Engländer fanden sich abends bei uns ein und bastelten mit. Der eine kannte sich mit Lautsprechern aus. Da die Engländer nicht auf ihren Tee verzichten wollten, brachten sie sich diesen mit. Die Verständigung war mit Händen und Füßen. So zeigte der eine mit einer englischen Münze, die er unter die Teetasse hielt, dass er die noch sehen konnte. Er meinte natürlich, der Tee war zu schwach. Auch manche Süßigkeiten gab es.

Da die Engländer anfangs auch Radiogeräte beschlagnahmten, mussten wir unser Gerät auch abgeben. Mutter sah unseren Apparat in der Offiziersmesse wieder. Sie konnte erklären, dass dies unser Radio wäre und bekam es wieder.

Erich Baum kam damals auch oft zu uns und spielte auf seinem Akkordeon. Er hatte schon seinen Entlassungsschein erhalten. Da er aber aus Breslau stammte, konnte er nicht in die Heimat reisen und blieb in Kappeln. Vater und Erich richteten sich auf dem Boden eine kleine Werkstatt ein, wo sie elektrische Geräte reparierten. Erich bekam bald Arbeit bei der Nestle. Beim Transformatorwickeln konnte ich Vater zur Hand gehen. Auch auf Montage nahm er mich mit. Ich wollte auch Elektriker werden. Aber erst einmal musste der Schulbetrieb wieder anlaufen.

Es gab keinen Unterricht, da die Schulen nicht geheizt werden konnten. Für den Augenblick des Schulaufgabenabholens wurde eine Klasse geheizt. Jeder brachte ein Brikett mit. Vater hatte bei Konrektor Schrader in der Schmiedestraße einen elektrischen Schaden zu beheben und so kam es, dass ich mit Karin zusammen Unterricht erhielt. Der Unterricht fand im Sommer 1946 im Garten statt, wo der Konrektor bei seiner Schwiegertochter beköstigt wurde.

Der Schulunterricht ging wieder los und unser Klassenlehrer war Konrektor Schrader. Wenn jemand seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, musste er sich vorne ans Pult stellen und erklären, warum. Es gab auch welche an die Ohren. Einmal war ich auch dabei und er machte keine Ausnahme.

Konrektor Schrader konnte auch „rückwärts gucken“. Seine goldene Brille spiegelte wohl für sein Auge sichtbar, was hinter ihm passierte. Einmal sah er, wie Heini Jessen seine Späße hinter ihm machte. Er drehte sich plötzlich um und Heini bekam Prügel. Je doller der Konrektor schlug, umso mehr lachte Heini. Es war für den älteren Herrn sicherlich eine Anstrengung.

Wir erhielten im Herbst 1946 Zeugnisse. Ich war in der 8. Klasse. Ostern 1947 wurde ich versetzt in die 9. Klasse und mein Klassenlehrer wurde Hans Ramcke. Als er mich sah, fragte er mich gleich: „Na Erich, wo haben wir uns das letzte Mal gesehen?“ Ich sagte: „Auf dem Weg von Zoppot nach Gotenhafen.“ Ja, da kam er uns in Uniform als Landser entgegen. Mein Vater hatte ihn früher auch schon als Junglehrer in Kappeln.

Kapitelübersicht

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1 Kommentar

  1. Dietrich von Horn

    Nee, es war keine Anstrengung für den älteren Herren, sondern eine Demütigung. Denn Heini lachte ihn aus. Toll, dass er gemacht hat.
    Drum lerne:
    Ein Lehrer schafft sich nur durch erworbene nicht durch gegebene Autorität Respekt.

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