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Jan 24 2022

Jørgen de Mylius

Ein neues (altes) Kapitel aus Eckehards „Soundtrack of my life“.

1965-1968 – Jørgen

von Eckehard Tebbe (2011)

Richtig, die Schreibweise deutet an, dass sich ein Ausflug in nordische Gefilde abzeichnet.

Während Manfred immer abends die Schleusentore des Popkanals öffnet, ist Jørgen de Mylius nachmittags dran. Ein Mann mit unglaublichem Fachwissen auf diesem Gebiet. Ein ‚Titan’, würde Dittsche sagen. Er sitzt in Kopenhagen auf einem offenbar bequemen Hocker von ‚Danmarks Radio’, wo er seit 1963 einen Korb innovativer Sendungen moderiert, vor allem ‚Nach der Schule’ (‚Efter Skoletid’), ‚Für die Jugend’ (‚For de unge’) und die Top 20.

Jørgen de Mylius (1963) - Quelle: DR

Ich verpasse kaum eine Sendung. Mein TK 19 steht schon 5 Minuten vorher startbereit, fachmännisch verkabelt mit dem Kofferradio. Nach den Nachrichten, die ich nach Monaten konzentrierten Zuhörens schon fast verstehen kann (obwohl Dänisch mir bisweilen vorkommt wie eine chronische Halskrankheit, sorry), befällt mich Unruhe. Wird er sofort mit einem Song einleiten oder kommt erst eine knappe Begrüßung? Mein Finger zuckt nervös auf der Aufnahmetaste. Start! Nach zwei Minuten und fünf Sekunden habe ich ‚Beachwood City’ von Freddy Cannon im Kasten.

Beste Qualität. Ist ja UKW, und Jørgen hat keine Silbe reingequasselt wie die penetranten Dampflaberer heute, diese selbstverliebten Trantüten von ffn, Antenne, n-joy und anderen Störenfrieden, denen die Musik doch scheißegal (muss hier sein) ist. Hauptsache, sie stehen im gleißenden Rampenlicht, ähnlich wie der ehemalige Berufskollege Gottschalk, der bei ‚Wetten, dass..?’ im Karnevals-Outfit drei Bataillone Stars ausschließlich zu dem Zweck um sich versammelt, damit sie seine Füße küssen. Zumindest ist er nur noch peinlich. Ein Geck. Narziss. Muss ich endlich mal loswerden … In jeder auch nur einigermaßen erträglichen Sendung würde der Blöker doch nur fremdeln.

Ich schaffe es einfach nicht, nach Stanislaw Jercy Lecs Weisheit vorzugehen und den verschlüsselten Weg zu wählen: „Liebet eure Feinde, vielleicht schadet das ihrem Ruf.“ Nein, mit Leuten, die lauthals Berge versprechen und dann doch nur Maulwurfshügel aufschütten, komme ich einfach nicht klar …

Zu meinem Himmelhochjauchzen öffnet Jørgen mal wieder seine Interpretenkiste, was bedeutet, dass er mehrere Songs einer bestimmten Band oder eines Stars auflegt. Freddy ist also heute dran. Nein, nicht Franz Eugen Helmut Manfred Nidl-Petz aus Niederfladnitz. Cannon. Freddy Cannon, nicht Quinn. Boom-Boom-Freddy. Geht auch so mordsmäßig ab wie ein geladenes Magazin: ‚Talla-hassee Lassie’, ‚Abigail beecher’, ‚Way down yonder in New Orleans’, ‚Pali-sade’s Park’, Muskrat ramble’ und ‚Action’ …

Freddy Cannon - Single 1965

‚Oh Baby come on,
let me take you where the action is …
… Dance, dance, dance,
when you hear that beat.
Dance, dance, dance,
get up off your seat.
Dance, dance, dance,
let your backbone slip.
Let’s go to the place on the Sunset Strip.
Oh baby come on …’*

Mein Gott, Freddy entfesselt mich völlig. Läutet alle Glocken zwischen Nord- und Ostsee: Houdini’s in town. Hier gibt es zwar nur das Strandhotel, und das liegt nicht am Sunset Strip, aber stell dir einfach vor, dass du gerade vor dem ‚Whisky À Go Go’ stehst. Du weißt doch, die Geburtsstätte von Johnny Rivers. Und von dort bis zum Hollywood Boulevard sind es nur lächerliche drei Kilometer. Lass uns ein paar Schritte über den Walk of Fame schlendern und mal wieder unseren Cowboygang in den riesigen Schaufenstern bewundern. Nebenbei können wir uns ein paar Sterne ansehen. Den von Louis vielleicht oder von Sidney Poitier, der den Gregory in ‚Blackboard Jungle’ gespielt hat. Was, das weißt du nicht mehr? Der Schwarze, der die ‚Saat der Gewalt’ erstickt hat! … Thinkin’ is the best way to travel …

Und so geht das jeden lieben Tag. Jørgen fährt das Traum-Programm, ohne Pause. Ich schneide mit, was mein begrenzter Etat für BASF-Bänder hergibt. Julius**, ich werde dich bald wieder aufsuchen müssen …

The Swinging Blue Jeans - Deutsches Lochcover 1963-65

Nächste Woche sind die Swinging Blue Jeans dran. Da dreht sich dann nicht nur ‚Hippy hippy shake’ oder ‚Good golly Miss Molly’. Das hörst du inzwischen auch auf gemäßigten Stationen, NDR 2 etwa, zwischen ‚Du bist nicht allein’ und ‚Kleine Annabell, musst nicht traurig sein’. Nein, Danmarks Radio schenkt dir auch mal eine erstklassige B-Seite, einen übersehenen, allseits vergessenen EP-Track oder die Crème eines Albums.

Fast könntest du noch den Wochentag und die Uhrzeit herbeten, an dem ihr erster fetter Ton über den welligen Äther geht. Sie alle schreiben die Zeilen, die du gerade liest.

Am 19. Mai dieses Jahres stirbt Kathy Kirby. Ringt sich zu ihren Ehren gefälligst mal ein öder deutscher Sender dazu durch, wenigstens ‚Secret love‘, ‚Dance on’ oder ‚Let me go, lover!’ in den Player zu schieben? Natürlich nicht. Bin ich froh, dass Jørgen mir das alles schon 1965 bietet. Ich könnte die Saturn-Filiale in Hamburg – und die hat Platz – allein mit den Songs füllen, deren Erstausstrahlung ich bei Radio Danmark lausche. Angespannt lausche. Ich darf keinen Ton verpassen. Stört mich bloß nicht, wenn Jørgen am Draht ist.

Und das ist jetzt wieder einer dieser geliebten Zufälle … In diesem Moment erklingt im Hintergrund, aus den Boxen neben der Liege, auf der sich Jessicas Katzen Targui und Annemone lümmeln, das immergrüne ‚Boys cry’. Wo könnte ich Eden Kane zum ersten Mal begegnet sein …
Jørgen de Mylius wechselt später zum Fernsehen. Dort feiert er ebenfalls große Erfolge, z. B. als 19-maliger Kommentator für den Eurovision Song Contest. Er scheint immer noch im Geschäft zu sein. Gut so.

P.S. Noch ein kurzer Nachtrag …

Die Greise unter euch erinnern sich noch an Wolf-Dieter Stubel? Den etwas hölzernen D.J. der NDR-Hitparade, die ich zwischen 65 und 69 auch öfters höre. Habt ihr noch diese brave Sendung im Kopf, als es deutsch und international gemixt zuging?

L.O.D. - Lenne & the Lee Kings (Schweden 1965)

Selbst Mutter schaltet diese Charts oft ein. Sie wartet auf Ronny oder Freddy, ich auf die Beatles und Stones. Ich glaube, ich verweigere mich diesem Mus, als ‚Oh my darling Caroline‘ ‚I want to hold your hand vom Thron‘ stößt. Kann man auch nur schwer verwinden …

Da nistet man sich doch besser bei Jørgen ein. Wenn man dort mal dänische Brocken vorgesetzt bekommt, haben sie wenigstens den ohrfreundlichen Beat, etwa wie ‚L.O.D. Love on delivery‘ von Lenne und den Lee Kings.

*  Venet / Boyce: Where The Action Is (Freddy Cannon, 1965)
** Julius Bibelwitz, Elektriker und Besitzer des Ladens in Vogelsang-Grünholz, bei dem mein älterer Bruder Hans damals Freddy-Singles erstanden hat.

Das hier soll Eckehard euch selbst erklären.

Jørgen de Mylius - Autogramm für Eckehard Tebbe

4 Kommentare

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  1. Runa Borkenstein

    …wie wundervoll, so eine Leidenschaft,
    die in einem "brennt"
    und es dazu auch noch schafft
    in wörtlicher Form
    anzustecken Leser*innen
    einfach enorm

  2. Dietrich von Horn

    Eckehard, Wahnsinn!

  3. Hans-Werner Panthel

    Efter skoletid war wohl so ungefähr gegen 15 – 16 Uhr. Bei mir war ein Grundig TK145 bereit, gekauft bei Burdinski.

  4. Eckehard Tebbe

    Na gut, Achim … Telegramm-Stil …
    Meine Musik-Macke: bekannt. Auch, dass sie in meinen Erinnerungen der Roten Faden abgibt. Dass sie mein 'Arbeitszimmer' prägt, zu erwarten: Musikregale, Wände tapeziert: passende 'Reliquien' aus ca. 60 Jahren. Sohn Hendrik las das Kapitel oben, forschte im Netz nach Jörgen, mailte, bekam Antwort, einschl. der abgebildeten Karte. Hängt nun ebenfalls als gerahmte 'Reliquie' an der Wand, zwischen 'Kansas City / Beatles', meiner ersten selbst gekauften Single, und 'Banjo Boy / Jan & Kjeld': erste Single, die ich als etwa 10jähriger bei Julius Bibelwitz kaufen wollte (alles eigene Kapitel), aber kein Geld dafür hatte. Fand Hendrik bei ebay und wurde Weihnachtsgeschenk #2.
    Jörgen ist weiterhin am Draht: http://www.dr.dk./lyd/p5/hithouse, mo-fr 18.00 und http://www.dr.dk/lyd/p5/eldorado, sa 14.00

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