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Mai 04 2022

Buchtipp – Time Is on My Side

Kürzlich ist mir wieder ein großartiges Buch über „unsere“ Zeit ins Haus geschneit.

Kaum beachtet, sauschwer (1,2 kg), weil dick (854 S.), aber sonst …

Detlef Siegfried - Time is on my side (2017)Detlef Siegfried - Time is on my side (2017)

Detlef Siegfried

Time Is on My Side

Konsum und Politik in der
westdeutschen Jugendkultur
der 60er Jahre

(Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte)
Verlag: Wallstein
Gebundene Ausgabe
854 Seiten
Erscheinungstermin: 28. August 2017
ISBN: 978-3-835-33083-2
Preis: 29,90 €

Beat und Hippies, »Twen« und »Konkret«, lange Haare und Plattenspieler waren Material und zugleich Ausformungen eines oftmals politisch aufgeladenen jugendkulturellen Aufbruchs, der dramatische Konflikte um das Selbstverständnis der Bundesrepublik auslöste, aber zugleich ihre Modernisierung von unten vorantrieb. Der gesellschaftliche Wandel in den 60er Jahren wurde besonders stark von einer jugendlich geprägten Massenkultur vorangetrieben, die sich seit den späten 50er Jahren herausbildete und häufig polarisierend wirkte. Jazzbands, der Star-Club, Zeitschriften wie »Twen« und »Konkret«, Sendungen wie Radio Bremens Beat Club, die Folk- und Underground-Festivals auf der Burg Waldeck und die Essener Songtage von 1968, »Gammler«, Wohngemeinschaften und Jugendzentren waren Kristallisationsformen dieser neuartigen Jugendkultur, die durch den materiellen Besserstellungsschub der Konsumgesellschaft ermöglicht wurde und in der Bundesrepublik mehr als in anderen europäischen Gesellschaften gleichzeitig von politischen Visionen und Konflikten geprägt war. Die stärkste symbolische Verdichtung fand diese widersprüchliche Symbiose in dem Signum »1968«.

Detlef Siegfried untersucht Bedingungsfaktoren und Dynamiken in der Entstehung und Ausbreitung der zwischen Pop und Politik oszillierenden westdeutschen Jugendkultur in den langen 60er Jahren zwischen 1958 und 1973. Im Mittelpunkt stehen Akteure und Orte, Gegenstände und Medien. Damit treten Trägergruppen, Richtungen, Verläufe und Ausformungen jenes Wertewandels, der die Kontur der Bundesrepublik nachhaltig prägte, deutlicher als bisher hervor. Gut zehn Jahre nach der Erstpublikation erscheint dieses Standardwerk der Popgeschichte in einer mit einem Vorwort versehenen Studienausgabe.

Ich bin noch nicht durch, deshalb zunächst mal eine Leser-Rezension, der ich mich erstmal uneinschränkt anschließe:

Time is on my Side ist das bei weitem Umfangreichste und Schlüssigste, was ich je zum Thema „68er“ gelesen habe. Jenseits ideologischer Gräben entfaltet sich hier eine brilliant erzählte Geschichte von den 50ern bis in die 70er Jahre, die die soziale, kulturelle und politische Herkunft der später so genannten „68er“ ebenso beleuchtet wie ihre Wege und Werdegänge nach dem berühmten Jahr, in dem alles kulminierte. Dabei erfährt man von namhaften und oft mittlerweile ja legendären Personen und Kommunen ebenso wie von entscheidenden Ideengebern und Machern, die eher im Hintergrund blieben und streng genommen (nach ihrem Geburtsjahr) dieser Generation oft gar nicht angehörten. Zusammen mit dem breiten gesellschaftlichen Kontext, in den diese Jahre vom Autor immer wieder und gekonnt eingebettet werden, kommt so ein Phänomen zum Vorschein, dass so unendlich viel mehr war als nur lange Haare und Studentenprotest. Für mich hat sich nach der Lektüre dieses Buches das Bild einer kulturellen Transformation ergeben, die bis heute nachhallt und sehr viel länger dauerte als nur „1968“.

2 Kommentare

  1. Eckehard Tebbe

    Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber …
    Die Rezension gibt vieles wieder, was ich selbst damals gefühlt habe. Und so lang waren unsere Haare nun auch wieder nicht, in der besten Zeit noch nicht mal bis zu den Schultern, und die Studentenproteste in der Studienzeit in Kassel und Hildesheim waren auch nicht besonders exzessiv … Aber es waren eben die 'innerlichen' Auswirkungen. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin heute noch mehr 68er als damals, noch politischer, noch linker, einfach besonders in den End-Sechzigern fundamental geprägt. Gut so.

  2. Dietrich von Horn

    Danke für den Tipp!

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