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Aug 25 2012

Willi Lassen

Klaus-Harms-Schule

Ein ganz „normales“ Bilderrätsel in Form der zuletzt sehr beliebten Kappuzzles sollte es werden und um ein wenig Abstand zu den zuletzt dominierenden eher „touristischen“ Motiven zu bekommen, durfte gern mal wieder ein Lehrer „herhalten“ – diesmal unser Direktor Willi Lassen.

Doch manchmal gibt es die merkwürdigsten Zufälle. Gerade hatte ich dieses Lehrer-Puzzle fertig, fiel mir bei der Vorbereitung der Rätselauflösung ein, dass ich irgendwo noch dessen Todesanzeige hatte. Es stellte sich heraus, dass sein Todestag sich genau am 25. August 2012 zum 40. Mal jährte. Da Nicolaus Schmidt mir im Rahmen seines Artikel über Gerda Schmidt-Panknin angekündigt hatte, dass er irgendwann auch mal etwas über Willi Lassen schreiben würde, fragte ich einfach direkt nach, ob er eventuell einen kleinen kompakten Beitrag für die Rätselauflösung verfassen könnte.

Der dadurch eingeleitete Prozess entwickelte dann aber eine solche Eigendynamik, dass auch ich tagelang fast ausschließlich nur mit diesem Thema befasst war. Arbeit zu delegieren und sie letztlich in gleichem oder vielfachem Maße zurück zu bekommen, war Strafe und Belohnung zugleich. Exklusiv für die Schulzeitreisen ist so eine erste Fassung der Biografie von Willi Lassen entstanden, die sicher in den nächsten Jahren fortgeschrieben wird, deren Veröffentlichung aber hier ihre Premiere erlebt.

Für seine Mühe und die tolle Zusammenarbeit bedanke ich mich ganz herzlich bei Nicolaus Schmidt.


Der Beitrag wurde zuletzt bearbeitet am 1. Juni 2013 (Quellen 18 und 19).


Willi Lassen
Eine biografische Skizze von Nicolaus Schmidt

„Good morning, boys and girls!“ Wir frisch gebackenen Sextaner staunten 1963 nicht schlecht, als uns der Direktor persönlich und überaus schwungvoll in unserem neuen Klassenraum begrüßte. Unsere Klaus-Harms-Schule - Willi Lassen (3)Klassenlehrerin, Frau Nicolaisen, sei noch zu einem Studienaufenthalt in den USA und deshalb würde er uns in den ersten Wochen in Englisch unterrichten.

Ich erinnere mich an keine Details mehr, weiß nur, dass mir das Englisch Lernen in diesen ersten Stunden sehr viel Spaß brachte, der sich dann nach dem Erscheinen unserer „richtigen“ Englischlehrerin etwas legte. Auf den Fotos aus dieser Zeit sieht man, dass Willi Lassen 1963 kein junger Lehrer mehr war, und doch hat er bei mir einen jugendlichen, dynamischen Eindruck hinterlassen. Er kam federnden Schrittes in den Klassenraum, war sehr freundlich, strahlte uns Schüler geradezu an. Nach dieser kurzen Episode hatte ich keinen direkten Kontakt mehr mit ihm und doch haben diese ersten Wochen mein Bild von Willi Lassen geprägt, der von 1956 bis 1968 Direktor der Klaus-Harms-Schule war.

Eric Christian Rust, der Lassen noch nicht einmal aus dem Unterricht kannte, hat ihn so beschrieben: „Er erschien mir als ein fähiger, gütiger und eher zurückhaltender Mensch. Er gewährte sowohl seinen Lehrern als auch uns Schülern Freiräume, die uns positiv prägten, verantwortungsbewusst machten und halfen, unserem Kappeln - Klaus-Harms-Schule (1967)Gymnasium in der hintersten Provinz mit seinen zahlreichen strafversetzten Lehrern einen Charakter und eine horizonterweiternde Qualität zu verleihen, dank derer sich die Klaus-Harms-Schule durchaus mit ihren Rivalen in den größeren Städten messen konnte.“

Willi Lassen hat in der Tat die Klaus-Harms-Schule nicht nur durch die baulichen Erweiterungen, sondern vor allem dadurch entscheidend mit geprägt, dass er eine liberale, künstlerisch interessierte und weltoffene Atmosphäre schuf. Dies war in Kappeln in den 1950er-Jahren eine große Leistung, zumal dem Kollegium mehrere Lehrer angehörten, die überhaupt nicht in eine solche eher reformorientierte Richtung passten und deren Unterricht eher gegenteilige Effekte hatte. Die Klaus-Harms-Schule war denn auch unter Willi Lassen keine Schule, an der nur Freude aufkam. Die Leistungen Willi Lassens waren dem Kollegium aber durchaus bewusst und wurden unter anderem 1973 von Edgar Pankalla in seiner historischen Schrift „50 Jahre Klaus-Harms-Schule Kappeln“1 ausführlich gewürdigt.

Wer war der Mensch Willi Lassen? Für uns Schüler waren Lehrer einfach Lehrer. Dass sie ein Privatleben Klaus-Harms-Schule - Willi Lassenhatten, kam uns nicht in den Sinn. Dass der Schuldirektor Willi Lassen einen persönlichen Hintergrund hatte, den der damalige Kappelner Bürger als Skandal empfunden hätte, war jenseits unserer Vorstellungskraft und Erfahrung. Es gab auch in Kappeln in den 1950er-Jahren Biografien, die in kein in Schleswig-Holstein übliches Raster passten, auch wenn jemand wie Willi Lassen in Schrepperie bei Kappeln geboren war.2

Willi Lassen lebte seit etwa 1930 in einer Beziehung mit dem Kunsthistoriker Jan Lauts2, was in Kappeln außer Gerda Schmidt-Panknin kaum jemand wusste.

Im Folgenden skizziere ich die mir derzeit bekannten Stationen seiner Biografie, an der ich in den kommenden Jahren weiter arbeiten werde.

Willi Lassen wurde 19063 in Hamburg als Sohn des Kaufmanns Matthias Wilhelm Lassen geboren.18 Lassens Vater soll aus der kleinen Ortschaft Schrepperie in Angeln stammen.2 Willi Lassen hatte eine Schwester Elly Witt, die zumindest in den Jahren um 1945 in Schleswig wohnte.5 Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf.2

Willi Lassen ging in Hamburg zur Schule und erhielt das Reifezeugnis am 5.9.1924 an der Oberrealschule Kaiser-Friedrich-Ufer in Hamburg-Eimsbüttel.18 Von 1924 bis 1929 studierte er in Hamburg, einen Teil des Studiums soll er in Berlin absolviert haben,2 ein breites Spektrum von Englisch, Mathematik, Germanistik und Kunstgeschichte.1 Sein Studium soll er es zeitweise unterbrochen haben.6 Während des Studiums hat Willi Lassen die erste von zwei großen Lebenskrisen erlebt. Den Zweifel am Sinn des Studiums soll er mit Hilfe von Jan Lauts, der zeitweise parallel in Hamburg bzw. Berlin studierte, überwunden haben.2 Ob die beiden sich in Berlin oder in Hamburg kennengelernt haben, ist nicht bekannt. Vor Ausbruch des Krieges hat er u. a. in England als Lehrer unterrichtet.6 Eine Lehrtätigkeit bis 1939 in Deutschland bzw. eine Tätigkeit im Bereich Englisch-Didaktik ist wahrscheinlich, aber bislang nicht belegt.

In Hamburg könnte er gegen 1929 eventuell mit dem Erben eines Hamburger Kaffeehändlers und später sehr bekannten Fotografen Herbert List eng befreundet gewesen sein. Hier gibt es einen Hinweis des englischen Dichters und Autors Stephen Spender, der in einem Vorwort zu einem Fotoband Lists von einem „Willy Lassen“ schreibt.7 Die Beschreibung der entsprechenden Romanfigur „Willy Lassel“ im Roman „The Temple“8 als Freund des Roman-„Joachim“ (Herbert List) trifft in so vielen Details auf Willi Lassen zu, dass ich diese Frage weiter verfolgen werde. Spender beschreibt in diesem autobiografischen Roman, wie er 1929 als 20-Jähriger aus dem prüden, noch viktorianisch geprägten England kommend in Hamburg auf eine libertäre, kulturell avantgardistische, weltoffene und sexuell freizügige Szene trifft, in der die Bedrohungen der bald erstarkenden Nazi-Bewegung noch nicht zu spüren sind. Bei einem zweiten Besuch (1932) ist dann die Situation gekippt und der „Willy Lassel“ im Buch ist im Begriff, eine „Gertrud“ zu heiraten und zeigt Sympathien für die NSDAP. Diesen Teil hat Spender jedoch 1987 mit dem Wissen um die historischen Ereignisse stark überarbeitet, bewusst in das Jahr 1932 verlegt und, wie er sagt, z. B. die Entwicklung der Figur des „Joachim“ als Fiktion bearbeitet.8

Bei Ausbruch des 2. Weltkrieges waren Willi Lassen und Jan Lauts auf dem Weg, um gemeinsam nach England zu reisen. Sie entschieden sich dafür, in Deutschland zu bleiben.2 Im Verlauf des Krieges diente Willi Lassen vermutlich als Offizier, spätestens ab 1941 als Leiter oder Abteilungsleiter der Dolmetscherschule der Wehrmacht in Meißen, in der deutsche Soldaten und Wehrmachtsangestellte in englischer Sprache ausgebildet wurden, um englische Nachrichten, Funksprüche u. a. verstehen, übersetzen und entschlüsseln zu können.2,9 In dieser Funktion hat er ein Lehrbuch speziell zum Verständnis englischer Kriegsberichte und -befehle geschrieben.10

Nach Gerda Schmidt-Panknins Darstellung konnte er als Dienststellenleiter seinen Freund Jan Lauts als Mitarbeiter anfordern, als diesem nach seiner Einberufung (nach 1941, s. u.) ein Einsatz an der russischen Front drohte. Dies war eine Aktion, die für beide nicht ungefährlich war, da Homosexuellen das KZ drohte. Als Leiter der Dienststelle soll Lassen grundsätzlich Mitarbeiter, die sich bei ihm mit dem Hitlergruß vorstellten, nicht eingestellt bzw. angefordert haben.

Im Januar 1944 wurde er in den „Stab 277. J. D.“ (Jäger-Division?) nach Frankreich versetzt.18 Zu dieser Zeit oder bereits in Meißen bzw. ist Willi Lassen an der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 beteiligt gewesen,19 genaueres ist derzeit nicht bekannt. Laut Gerda Schmidt-Panknin soll er sich mit anderen auf „eine Zeit nach Hitler vorbereitet“ haben2. „Einer Verfolgung“ ist „er nur durch Gefangenschaft entkommen.“19 Ab dem 28. August 1944 wird er in einem englischen Kriegsgefangenenlager in Frankreich registriert,2 aus dem er bald in das sog. „Studienlager“ Norton Camp nach Süd-England verlegt wurde.

Im Norton Camp war Lassen sowohl Lagerältester als auch Prüfungsleiter für die Abnahme von Abiturprüfungen von deutschen Kriegsgefangenen, die sich teilweise in anderen Lagern u. a. mit Hilfe von aus dem Norton Camp verschickten „Studienblättern“ auf das Abitur vorbereitet hatten. 1947 kam es zur Nagelprobe, als der auf Veranlassung von Adolf Grimme angereiste Hamburger Oberschulrat Merck die Prüfungen für die englische Besatzungszone anerkennen sollte. Lassen hatte Merck nicht nur die Unterlagen sondern auch gute Getränke und reichliches Essen vorsetzen lassen, was aber eher den gegenteiligen Effekt hatte, da Merck aus dem hungernden Hamburg des Notjahres 1947 sich hiervon eher provoziert fühlte. Schließlich wurden aber alle Prüfungen als bestanden anerkannt.11 Oberschulrat Mercks „Eindruck von den Reifeprüfungskursen im Lager Norton war so gut, dass er den Leiter der Kurse, Studienrat Lassen, als amtlichen Kommissar für die Abnahme der Reifeprüfungen in englischen Kriegsgefangenenlagern bestimmte. Reifezeugnisse mit dessen Unterschrift wurden zunächst in der Britischen Besatzungszone, später auch in den anderen westlichen Zonen Deutschlands vorbehaltlos anerkannt.12 Seinen Aufenthalt im Lager verlängerte Willi Lassen freiwillig bis 19486, vermutlich um noch letzte Abiturprüfungen abzunehmen. Jan Lauts kehrte schon 1946 an die Kunsthalle in Karlsruhe zurück, wo er 1941, vor seiner Einberufung, zum Konservator benannt worden war.13

Zu den ersten beiden Jahren in Deutschland gibt es keine Informationen. Willi Lassen hatte ja Verbindungen zur Hamburger Schulbehörde und auch nach Karlsruhe, wo Jan Lauts an der Kunsthalle Kurator und dann ab 1956 Direktor wurde.Oberschule St. Peter (1950) (6) Lassen übernahm aber Anfang 1950 die Stelle des Direktors an der „Oberschule St. Peter“, dem heutigen Nordseegymnasium. Die Schule war 1945 als provisorische „Berliner Oberschule St. Peter“ noch vor Kriegsende gegründet worden, als eine Gruppe von 395 Berliner Schülern und 35 Lehrer auf der Flucht vor dem Bombenhagel nach einer Odyssee über Posen schließlich auf der Halbinsel Eiderstedt gelandet waren. Anfangs wurde in verschiedenen Pensionen und Gästehäusern unterrichtet, Ende 1949 konnte eine ausgediente Militärbaracke in die Böhler Heide versetzt werden, das erste feste Schulgebäude der ersten Schulneugründung Schleswig-Holsteins nach dem Krieg. Die Situation für Lehrer wie Schüler war extrem hart, 1947 grassierte in St. Peter eine Kinderlähmungsepidemie, auch andere Krankheiten suchten in den Mangeljahren 1945 bis 1949 die Schüler heim.6

Als nach den ersten Jahren die meisten der Berliner Schüler wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt waren, rekrutierten sich die Schüler zur Hälfte aus einheimischen Kindern und solchen, die für längere Zeit in umliegenden Heimen untergebracht waren. Um als Schule dauerhaft zu bestehen und ein richtiges Schulgebäude zu bekommen, musste die Schule steigende Schülerzahlen nachweisen. Da es seitens eines Politikers Bestrebungen gab, in Schleswig-Holstein eine Internatsschule im Stile englischer College-Erziehung zu errichten, gründete die Schule unter dem neuen Direktor Oberschule St. Peter (1951) (6)Willi Lassen einen Verein für den dauerhaften Internatsaufenthalt auswärtiger Schüler. Lassen wurde Vorsitzender des „Vereins Landerziehungsheim St. Peter“.6 Vermutlich waren diese Zielvorstellungen des Politikers auch verantwortlich dafür, Willi Lassen als Schulleiter anzuwerben, der ja das englische Erziehungssystem gut kannte.

Unter extrem schwierigen Bedingungen entwickelte die Schule eines reges musisches, kulturelles und sportliches Leben. Es wurden kurz nach deren Erscheinen die neuesten Werke von Böll oder Gottfried Benn gelesen. Am Ende der Amtszeit Willi Lassens in St. Peter konnte 1954 endlich der erste Teil eines neu errichteten wirklichen Schulgebäudes bezogen werden.

Willi Lassen verließ die Schule Ende 1955/Anfang 19566 und zog damit für sich die Notbremse, da er wie auch einige seiner Kollegen unter den Bedingungen in St. Peter zu zerbrechen drohte.

In den Jahren bis 1954 hieß die Umgebung der Barackenschule nicht nur „Böhler Heide“, sie war tatsächlich auch ein wüstenähnliches unwirtliches Gelände, auf dem nur wenige Sträucher wuchsen. Den heutigen Baumbestand gab es damals noch nicht einmal in Ansätzen. Ein Luftbild der Schule aus der Bauzeit des festen Gebäudes zeigt ein Gelände, das wie eine Mischung aus sibirischem Lager und Filmset für einen Fellini-Film am Rande Roms Ende der 1940er-Jahre aussieht. Bei Sturm muss ständig der Sand durch die Luft geflogen sein, der Winter mit seinen langen dunklen Nächten muss extrem trist und klimatisch extrem hart gewesen sein, zumal es in den ersten Jahren nur provisorische Unterkünfte, schlechte Isolierungen und zu wenig Heizmaterial gab. Klaus-Harms-Schule - Willi Lassen (1)Willi Lassen hat später erzählt, dass er in diesen Jahren auf dem besten Weg war, ein schwerer Alkoholiker zu werden. Zusammen mit einigen Kollegen habe man die Situation nur in abendlichen Runden mit sehr viel Alkohol bewältigen können. Zusammen mit dem Entschluss, von einem Tag auf den anderen keinen Tropfen Alkohol und keine Zigarettenschachtel mehr anzurühren, stand für ihn fest, dass er St. Peter verlassen musste.2

Ob Willi Lassen vor seinem Wechsel nach Kappeln noch eine Tätigkeit im Bereich Lehrplanarbeit/Englisch im Kieler Kultusministerium ausgeübt hat2, erscheint angesichts der zeitlichen Angaben des Nordsee-Gymnasiums wie der Klaus-Harms-Schule eher unwahrscheinlich. In Kappeln übernahm „mit OStD Willi Lassen … am 6. April 1956 ein Schulleiter die Klaus-Harms-Schule, der in seinem pädagogischen Wirken und mit seinem organisatorischen Geschick in den nächsten 12 Jahren die Geschicke der Schule leitete. Seine vornehme Denkungsart, seine liberale Gesinnung, das hohe Maß an Vertrauen, Wohlwollen und menschlicher Wärme, das ihm Kollegen und Schüler entgegenbrachten, seine Neigungen für die Kunst, wie seine mathematischen und neusprachlichen Kenntnisse waren eine weite Fächerung für einen Schulleiter. Er hatte maßgeblichen Anteil am Zustandekommen und an der Durchführung des Erweiterungsbaues eines Klassentraktes mit 5 Klassenräumen und einer neuen Hausmeisterwohnung. Hinzu kamen die Erstellung einer Lehrküche, Werkräume und Umkleideräume der Klaus-Harms-Schule - Willi Lassen mit Hans-Jürgen TechTurnhalle. Das frühere Direktorwohnhaus wurde umgebaut, um Räume für die Verwaltung, Lehrerbücherei und Lehrerzimmer zu schaffen“, schreibt Edgar Pankalla in seiner Schrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Klaus-Harms-Schule 1973.1

Willi Lassen hatte entscheidenden Anteil daran, dass das kleine Gymnasium in der tiefsten nordöstlichen Provinz zumindest in den späten 1950er bis 1970er-Jahren eine große Zahl Schüler hervorbrachte, die z. B. als Geschäftsführer großer Unternehmen, als Hochschulprofessoren, als Künstler, Ärzte oder Architekten sich einen Ruf aufbauen konnten. Eine große Zahl ehemaliger Schüler aus dieser Zeit blickt heute, wenn sie nicht gerade unter einem der anfangs genannten problematischen Klaus-Harms-Schule - Willi LassenLehrer gelitten hatten, positiv auf die Zeit an der Klaus-Harms-Schule zurück. Eine Lehrerin wie die Künstlerin Gerda Schmidt-Panknin konnte ihre Fähigkeiten nur in der von Pankalla erwähnten Atmosphäre des Vertrauens und Wohlwollens entfalten. Willi Lassen engagierte sich auch außerhalb der Schulzeit für seine Schüler, in dem er z. B. in den 1950er-Jahren interessierten Schülergruppen bei sich zu Haus die ersten Schallplatten-Gesamteinspielungen von Opern vorspielte und mit ihnen darüber diskutierte.14

Als Willi Lassen nach Kappeln kam, gab es dort immerhin zwei Buchhandlungen sowie ein Kino, es wurde Theater gespielt, z. B. in der Kantine der Liening-Werke15. Es war die Zeit, in der die Fisch- wie die Textilindustrie aufblühte und die Angela ihre Nähmaschinen weltweit exportierte. Für Lassen muss Kappeln nach dem öden St. Peter-Böhl eine wirkliche Verbesserung gewesen sein. Und doch kann man sich heute schwer vorstellen, wie sich ein so gebildeter, weltgewandter Mann in dieser kleinen Stadt gefühlt haben muss, in der es keine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gegeben hatte, in der z. B. der Maler Bettermann ab Ende der 1950er-Jahre fast unwidersprochen16 sich nachträglich als Opfer der Nazis stilisieren konnte, obwohl doch jeder alteingesessene Kappler seine völkische Malerei im alten Rathaus kannte und viele von seinem guten Verhältnis zu früheren NSDAP-Funktionären wussten. (Als eine der ersten Amtshandlungen hat Willi Lassen Bilder von Bettermann in der Klaus-Harms-Schule abhängen und durch Schülerarbeiten ersetzen lassen.2)

Willi Lassen - Rotstift Nr. 12 (1965)Willi Lassen konnte die für sein Leben wichtige Beziehung zu seinem Lebenspartner Jan Lauts, der im entferntesten Teil der Republik lebte, mit kaum einem Menschen in der Stadt teilen. Gerda Schmidt-Panknin war hier die große Ausnahme, sie wusste früh von diesem in Kappeln sonst unbekannten Willi Lassen, der kaum, dass zum Schuljahresende die letzte Strophe des Deutschlandliedes abgesungen war, schon im Taxi gesessen haben soll, um endlich zu seinem Freund nach Karlsruhe zu fahren.2 Wie man als Schwuler unter solchen Bedingungen leben konnte, kann man sich heute, wo in jeder Fernsehserie ein Schwuler dabei ist, kaum vorstellen. Ein für ihn wichtiger Kreis wird die Kappelner Sektion der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft gewesen sein, die er von 1957 bis 1967 geleitet hat und die es schon seit 1946 gab. In dieser Gesellschaft war die Mehrzahl der Kappelner, im Philologenverband organisierten Lehrer Mitglied. Die Kappler Sektion profitierte bei ihrer Arbeit, wie es in einem Bericht hieß, von dem breiten Wissen Willi Lassens.1 Eine eigene Initiative Lassens war die Verbreitung der „Griffelkunst“-Kunstedition in Kappeln.14 Ein weiterer Zirkel, in dem Willi Lassen seinem Interesse an Kultur und Austausch nachgehen konnte, war der Schlei-Bote - 1. September 1972Lesekreis mit der Buchhändlerin Annegret Beierlein und den Kollegen Krassow und Dr. Bürgin, in dem zumindest über kulturelle Themen diskutiert werden konnte. Über die Freundschaft mit Jan Lauts wurde aber auch hier nicht gesprochen.17

Willi Lassen wurde 1968 aus gesundheitlichen Gründen pensioniert und zog nach Bad Herrenalb, wo auch Jan Lauts wohnte. Schon vier Jahre später, am 25. August 1972 starb er. Jan Lauts konnte noch nach seiner Pensionierung sein Buch über Federico da Feltro, den Herzog von Urbino so weit voranbringen, dass es dann nach seinem Tod 1993 (zusammen mit der Co-Autorin Irmlind Herzner) 2002 im deutschen Kunstverlag erschien.

Schlei-Bote - 25. August 2012

Quellen:

1 Edgar Pankalla, 50 Jahre Klaus-Harms-Schule Kappeln, Sonderdruck aus Jahrbuch des Heimatvereins der Landschaft Angeln, herausgegeben im Auftrag des Heimatvereins der Landschaft Angeln e. V., Kappeln 1973, S. 12 und 13
2 Informationen von Gerda Schmidt-Panknin in einem Gespräch mit dem Autor im Juni 2012
3 Hans-Jürgen Tech, Von der Schleswig-Holsteinischen Universitäts-Gesellschaft und ihrer Sektion Kappeln, in: Jahrbuch des Angler Heimatvereins, Jahrgang 37, Kappeln 1973, S. 153-160
4 Bauer Boger (2012: ca. 80 Jahre alt) aus Schrepperie im Gespräch mit dem Autor im Juni 2012
5 Nachlass Jan Lauts Nr. 295 im Landesarchiv Baden-Württemberg, Karlsruhe, Brief von W. Lassen an seine Schwester Elly
6 Festschrift des Nordseegymnasiums zum 40-jährigen Jubiläum, St. Peter-Ording, 1995, Hrsg. Schulleiter Dieter Demmler, S. 1-15
7 Stephen Spender, Vorwort zum Bildband „Herbert List, Söhne des Lichts“, Hrsg. Max Scheeler und Jack Woody, Hamburg 1988, S. 2
8 Stephen Spender, The Temple, 1929 geschrieben, 1988 erstmals erschienen; 1929: S. 37 ff / 1932: S. 143 ff
9 siehe z. B. die dort herausgegebenen: ‪Fremdsprachen-Merkblätter für den Wehrmacht-Dolmetscher, zusammengestellt und bearbeitet bei der Nachrichten-Dolmetscher-Ersatz-Abteilung Meißen-Zaschendorf, Band 1, 1942‬; nach einem der unzähligen Forumsbeiträge zu Wehrmachtsdienststellen gehörte die Dolmetscherschule zur Nachrichtentruppe der Wehrmacht – http://forum.axishistory.com/viewtopic.php?t=122616 (abgerufen am 14.08.2012)
10 Willi Lassen, The High Command Announces – Wortschatz und Phraseologie zur Übersetzung von Wehrmachtsberichten, Heft 2 aus der Reihe „Arbeitshefte für den Sprachmittler“, 4. Auflage, Leipzig 1943
11 H. Schulz-Fielbrandt, In Kriegsgefangenschaft, Abiturientenprüfungen. Segensreicher Christlicher Verein Junger Männer, in: Heimatbuch Hagen + Mark, Hagen 1990, S. 132 – in: Klaus Loscher Studium und Alltag hinter Stacheldraht Birger Forells Beitrag zum theologisch-pädagogischen Lehrbetrieb im Norton Camp/England (1945-1948) Neukirchener 1997, S. 156
12 W. Wienert, Der Unterricht in Kriegsgefangenenlagern. Schule und Hochschule hinter Stacheldraht, Göttingen 1956, S. 13; zitiert nach: Klaus Loscher Studium und Alltag hinter Stacheldraht Birger Forells Beitrag zum theologisch-pädagogischen Lehrbetrieb im Norton Camp/England (1945-1948) Neukirchener 1997, S. 156
13 Vorworte zu den Findbüchern 1990 und 1995, Nachlass Jan Lauts im Landesarchiv Baden-Württemberg, Karlsruhe
14 E-Mail von Dr. Bernd Sahlmann (Oldenburg i. H.) an den Autor, 17.8.2012
15 Schulzeitreisen.de, Bekleidungswerk Liening (abgefragt am 14.08.2012)
16 Zu diesem Thema hat sich Dr. Hans-Jürgen Braun sen. am 24.11.2010 an den Autor gewandt und folgendes erzählt: Als der Maler Gerhart Bettermann nach dem Krieg begann, sich in der Öffentlichkeit als Verfolgter des Naziregimes darzustellen, habe sich sein Vater darüber sehr geärgert und öfter darüber gesprochen, dass er, 1935 Arzt in Kappeln, mehrfach von Bettermann aufgesucht wurde und dieser sich mit einem Empfehlungsschreiben aus höchsten Parteikreisen aus Berlin vorgestellt habe, um seine Bilder zu verkaufen. Deshalb habe er (der alte Dr. Braun) sich um das Jahr 1960 mit dem Schlei-Boten-Redakteur, der diese Bettermannsche Legende verbreitet hatte, getroffen, um diesen von der historischen Wahrheit zu erzählen. Dies hätte tatsächlich die Folge gehabt, dass der Schlei-Bote für ein paar Jahre diese Legende nicht wiederholte, bis schließlich sowohl der Redakteur wie auch der alte Dr. Braun verstarben und sich die Legendenbildung via Zeitung wiederholte.
17 Gespräch des Autors mit Annegret Beierlein am 13.08.2012
18 Personalakte zu Willi Lassen des S.-H. Kultusministeriums, laufende Nummer 1 (Personalblatt A Höhere Schulen – ohne Datum), Landesarchiv Schleswig-Holstein Abt. 811 Nr. 7717, Schleswig

19 Personalakte zu Willi Lassen des S.-H. Kultusministeriums, laufende Nummer 46 (Bewährungsgutachten v. 28.3.1950), Landesarchiv Schleswig-Holstein Abt. 811 Nr. 7717, Schleswig

1 Kommentar

  1. Manfred Rakoschek

    moinmoin,
    ein angemessener termin für diesen beitrag und
    ein mehrfaches und großes lob für diesen beitrag:

    – für ein kleines schülerlein mit minimalem weitblick war willi lassen eine wichtige person und funktion GANZ weit oben (neben dem hausmeister) ohne belang für mich

    – als mensch und in seinen beziehungen und bezügen wird er erst jetzt und hier für mich präsent. das gilt aber auch beispielsweise für frau panknin, die schräg gegenüber wohnte; meine begrenzte sicht als schülerlein wird deutlich: schule und lehrer in ihrer weit reichenden und eine werdene person unterstützende kraft kann ich erst im laufe der jahrzehnte erkennen und anerkennen.

    – wie viel arbeit es braucht, diese kompakte und differenzierte darstellung anzufertigen, ahne ich

    – ähnlich wie durch deinen artikel über liening bekommt die schulzeitreisen-seite eine weitere dimension neben feuilleton und persönliche detailerinnerungen und beflügelt hoffentlich auch weitere beitragsproduzenten

    ein schön beginnendes wochenende, achim, danke !

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